Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
andere, hatten sich die Ereignisse überstürzt, war alles außer Kontrolle geraten, musste er Dinge tun, zu denen er eigentlich gar nicht fähig war.
Endlich nahmen sie an dem Tisch ihre Plätze ein. Dass sich Sabrina mit dem Rücken zu ihm setzte, beruhigte ihn. Es war gewiss sehr viel einfacher, auf einen Hinterkopf zu zielen als frontal in ein Gesicht. Mit aufgelegtem Gewehr führte er das Fadenkreuz in die dunklen Haare. Warum konnte sie nicht ruhig sitzen? Offenbar sprach sie gerade mit Mira, dabei wackelte sie hin und her. So, jetzt schien sie zuzuhören, den Kopf hielt sie dabei endlich ruhig. Der Zeitpunkt war definitiv gekommen. Schon vorher hatte er den Abzug vorsichtig bis zum Druckpunkt durchgedrückt, jetzt genügte eine minimale Bewegung mit dem Zeigefinger. Der Schuss löste sich mit einem ohrenbetäubenden Knall. Er merkte, wie er auf dem glatten Autodach seinen Halt verlor. Im Stürzen registrierte er mit maßloser Enttäuschung, dass es etwa eine Handbreit über Sabrinas Kopf in der Hausmauer hinter der Terrasse eine kleine Explosion gab, Putz und Mörtel spritzte durch die Luft. Er sah, wie Hipp aufsprang, zu Sabrina hechtete und sie zu Boden riss.
Mit dem Rücken voran landete er auf dem Autodach, das Gewehr immer noch in den Händen. Wie hatte das passieren können? Die Jagdwaffe war ein Präzisionsgewehr. Offenbar war das Zielfernrohr dejustiert. Er rutschte kopfüber über die Frontscheibe auf die Kühlerhaube, überschlug sich und kam schwer atmend vor dem Auto zum Liegen. Ihm fiel der Wagenheber ein. In Südtirol, da war er ihm kurz entglitten, hatte im Kofferraum das Gewehr gestreift. Sollte sich dabei das Zielfernrohr verstellt haben? Er rappelte sich auf. Via di qui, presto, nur weg, schnell weg! Das Gewehr ließ er liegen, sprang ins Auto, startete, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr mit durchdrehenden Rädern um den Baum herum über die Wiese auf die asphaltierte Straße. Dass dabei an einem starken Ast der rechte Außenspiegel abriss, fiel ihm nicht auf. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er mit dem linken vorderen Kotflügel die Mauer streifte, was rote Lackspuren hinterließ. Aber selbst wenn er es bemerkt hätte, es wäre ihm egal gewesen.
53
D r. Lausitz, der mit einigen Gästen auf der Veranda saß, zuckte zusammen, als der Schuss fiel. Der Knall kam aus der Richtung der angrenzenden Tenuta del Leone. Hatte Luca sich endlich die Kugel gegeben? Quatsch, er lag ja im Krankenhaus. Und die Jagdsaison war noch nicht eröffnet. Er sah auf die Uhr. Fünfzehn Uhr vierzig. Er würde sich mit seinen Besuchern beeilen müssen. Um siebzehn Uhr hatte er eine Verabredung mit seinem Rechtsanwalt, um einige Papiere vorzubereiten, die sie morgen brauchten. Da hatte sich nämlich Mira Pertini angemeldet. Sie würde mit einem gewissen Herrn Hermanus kommen, der in ihrem Auftrag die Verhandlungen führen sollte. Ein Deutscher, der ihre Interessen vertrat? Wäre doch gelacht, wenn man den guten Mann nicht auf die richtige Seite ziehen konnte.
Die Mitglieder der kleinen Reisegruppe sahen ihn erwartungsvoll an. Richtig, er hatte sich erboten, ihnen etwas über italienischen Wein zu erzählen. Was waren das für seltsame Menschen? Sie kamen aus dem Ruhrpott, waren aus unerfindlichen Gründen wichtig, konnten vielleicht ein Kölsch von einem Malzbier unterscheiden, aber von Wein verstanden sie nichts, das spürte er. Lausitz musste grinsen. Irgendwie war er heute in ausgelassener Stimmung. Ob das an Melissa lag, die ihm das Aufstehen versüßt hatte? Oder beflügelte ihn der bevorstehende Kauf der Tenuta del Leone? Jedenfalls stach ihn der Hafer. Soso, dachte er, ihr Pappnasen wollt etwas über italienischen Wein erfahren, im Allgemeinen und im Besonderen, und dabei eure unwissenden Nasen in meine Gläser stecken? Er beschloss, der Veranstaltung eine besondere Note zu geben.
»Sie haben zur Begrüßung ein Glas Prosecco getrunken«, fing er an. »Ich hoffe, es hat Ihnen geschmeckt und das leichte Perlen hat Sie in eine angenehme Stimmung versetzt. Was der Name Prosecco bedeutet, muss ich Ihnen sicherlich nicht erzählen. Secco heißt? Richtig, secco heißt trocken. Prosecco steht also synonym für trockenen Schaumwein aus Italien, egal, aus welchen Rebsorten oder aus welcher Region.«
Dr. Lausitz erfreute sich am zustimmenden Nicken seiner Zuhörer. Diese Ignoranten würden ihm blind folgen.
»Wie etwas Italienischkenntnisse generell weiterhelfen«, fuhr er fort. »Sie haben gewiss schon
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