Hirschkuss
selbstsicher ausgesprochener Satz: »Ich will, dass du heute zu mir kommst.« ›Manchmal muss auch eine Schildkröte sich aus der Sicherheit ihres Panzers wagen‹, dachte sie sich, nachdem sie aufgelegt hatte.
Eine Viertelstunde nachdem sie Lisa ins Bett gebracht, ihr eine Geschichte erzählt und sie am Rücken gekrault hatte, saß die junge Polizistin mit Johann Bibertal auf der Terrasse und trank Campari Orange. Anne hatte beschlossen, ihm heute Abend so viel von diesem Achtzigerjahregetränk einzuflößen, dass er nicht mehr würde Auto fahren können. Sie selbst war schon nach den ersten Schlucken beschwipst, und das Ziehen im Bauch hatte sich in Aufregung verwandelt. Ehe Johann gekommen war, hatte sie sich noch einen superkurzen, beigefarbenen Rock und ein Trägertop angezogen. Barfuß und mit angewinkelten Beinen saß sie auf dem Terrassenstuhl. Johann wirkte so kontrolliert wie immer, doch Anne hatte den festen Vorsatz gefasst, dies heute Abend zu ändern.
Beide schauten auf den See, der Blick auf den Malerwinkel im Abendlicht war umwerfend. Aber das Gespräch blieb zunächst oberflächlich, Johann erzählte von seinem Tag, von Befangenheitsanträgen und Strafzumessungsproblemen, Tatbeständen und »dem Idioten vom DAX -Vorstand«, den er verteidigen musste, obwohl er eigentlich in den Knast gehörte. Anne nickte, obwohl sie ihm kaum folgen konnte. In ihrem Kopf dominierte ein einziger Gedanke: ›Ich will dich. Ich brauche Nähe.‹ Kaum hatte Johann leer getrunken, sprang sie auf, griff sich sein Glas und ging in die Küche, um ihm einen neuen Drink zu machen. Heute musste etwas vorangehen in dieser lahmen Beziehung, Tatbestände und DAX -Vorstände hin oder her. Wie hatte sie diese Zauderei satt!
Als Anne auf die Terrasse zurückkam, stellte sie sich vor Johann hin, streckte ihre braunen Beine durch und hielt ihm das Glas unter die Nase. Johann suchte überrascht ihre Augen, lächelte sie an und ließ dann seinen Blick von Annes Gesicht über ihre Brüste, den Minirock und ihre sportlichen Oberschenkel bis zu ihren nackten Füßen gleiten.
»Du hast die schönsten Füße, die ich jemals gesehen habe. Hätten Rehe Zehen«, sagte er, »dann würden sie so aussehen wie deine.«
Anne gluckste. Dieser Vergleich war ja wohl totaler Quatsch.
»Rehe haben aber Fell an den Beinen«, merkte sie an und spürte, dass sie angetrunken war. Trotzdem freute sie sich über das unbeholfene Kompliment. Sie hob ihm ihr Glas entgegen und sagte: »Cheers, mein Hirsch.« Ja, das war genauso blöd. Aber kam es in der Liebe immer darauf an, etwas Kluges von sich zu geben? Sie stießen an. Dann machte Anne eine Vierteldrehung und versuchte bei den wenigen Schritten, die sie bis zu ihrem Stuhl gehen musste, den Hirsch mit ihrem Po zu locken. Sie ließ sich fallen und zog die Beine wieder ans Gesäß. Sie fühlte sich wie ein Teenager. Bescheuert, aufgeregt, wild entschlossen.
Als sie mit dem vierten Glas Campari vor Johann stand, meinte dieser: »Du, ich darf jetzt wirklich nichts mehr trinken. Ich muss noch fahren.«
»Fahren?«, kiekste Anne. Anstatt weiterzusprechen, schob sie ihren Minirock ein Stück nach oben und setzte sich mit breiten Beinen auf Johanns Knie. Er nahm ihr sein Glas ab, trank einen Schluck und stellte es auf dem Tisch ab. Auch Anne stellte ihr Glas zur Seite.
»Du wehrst dich nicht?«, fragte sie. Plötzlich war sie außer Atem.
Johann studierte ihre Gesichtszüge. Auch sein Atem ging schneller. Anne spürte, wie ihr Bauch und ihr Unterleib heiß wurden. Ihre nackten Schenkel lagen auf Johanns Oberschenkeln, die ein dunkelbrauner Sommeranzug verhüllte. Annes Hände lagen auf ihren Beinen. Sie spürte ihre feste Haut, fühlte sich jung und begehrenswert. Sie wollte etwas. Nur wusste sie nicht so genau, was es war.
Vorsichtig beugte sie sich nach vorn, sodass ihr Kopf sanft Johanns Brust berührte. Er hob seine Hände und griff in ihr Haar. Anne spürte, wie er es mit der Nase berührte, sie hörte, wie er flüsterte: »Du riechst gut.«
Anne hatte die Augen geschlossen und vergaß für einen Moment alles um sich herum. Johann begann, ihren Kopf zu massieren. Er war zärtlich, trotz der ganzen Paragrafen in seinem Hirn. Anne genoss es, fühlte ein Prickeln am ganzen Körper. Dann hob sie den Kopf und näherte sich behutsam Johanns Mund. In dem Moment, in dem ihre Lippen sich berührten, sah Anne Bilder von Wellen und Gischt, von einem aufgewühlten Meer. Johanns Lippen waren schmaler als ihre
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