HISTORICAL Band 0264
Bestimmt hatte er seine ursprüngliche Absicht trotz ihres Verlangens nach einander nicht vergessen. Sie dachte an Jack, an ihre gerade erst beginnende Affäre und daran, wie kalt und leer ihr Bett am Morgen gewesen war. Sie dachte an ihre Liebe, die sie sich erst vor Kurzem eingestanden hatte. Wie zerbrechlich und unvernünftig diese Liebe war. Und dann bekam sie Angst, und sie konnte das abergläubische Gefühl nicht abschütteln, dass sich ein großes Unheil anbahnte.
„Mr. Churchward wünscht Sie zu sprechen, Mr. Kestrel“, verkündete Hudson, der Butler. „Ich habe ihm gesagt, dass Sie noch frühstücken, er wartet in der Bibliothek auf Sie.“
Jack legte seine Serviette neben den Teller und stand auf. Er hatte allein gefrühstückt, da sein Onkel wegen der Krankheit bettlägerig war und Lady Basset nie vor Mittag aufstand, obwohl sie kerngesund war. Das Haus am Eaton Square war düster und still wie ein Grab, seit sein Onkel so hinfällig war und die Bassets keine Gesellschaften mehr gaben. Jack hatte die größte Lust, für den Rest seines Aufenthalts in London wieder in seinen Club zu ziehen.
Bertie war an diesem Morgen ebenfalls nicht zum Frühstück erschienen, und Jack vermutete grimmig, dass er nachts gar nicht erst nach Hause gekommen war. Obwohl er selbst da wohl lieber ganz still sein sollte; in den letzten Tagen war morgens gerade die Milch geliefert worden, als er nach Hause gekommen war. Wieder einmal hatte er sich gezwungen zu gehen, als Sally noch schlief, und sich aus dem Haus geschlichen wie ein Dieb. Dieses Mal war sein Wunsch, einfach bei ihr im Bett zu bleiben, sogar noch stärker gewesen als zuvor. Eine weitere Nacht mit ihr hatte sein Verlangen nicht gestillt, im Gegenteil, es schien dadurch nur noch größer zu werden. Er wollte Sally mit Leib und Seele, sie sollte nur ihm ganz allein gehören. Anfangs hatte er das für ein rein körperliches Bedürfnis gehalten, doch da hatte er sich gründlich geirrt. Nach diesen turbulenten drei Tagen fühlte er sich mehr und mehr dazu getrieben, ihr einen Heiratsantrag zu machen, selbst wenn das Irrsinn war. Er hatte damals Merle heiraten wollen, und danach hatte es nie wieder eine Frau gegeben, mit der er sich eine Ehe hatte vorstellen können. Er durfte Sally nicht so lieben wie Merle, denn einem solchen Schmerz wollte er sich nie wieder ausliefern. Bestimmt beruhte sein Impuls, sie ganz für sich haben zu wollen, auf einer Mischung aus altmodischen Schuldgefühlen und reiner Besitzgier.
Stirnrunzelnd durchquerte er die Eingangshalle, um in die Bibliothek zu gehen. Er hatte Churchwards Besuch ganz vergessen. Als ihm sein Onkel vor ein paar Tagen von Berties Indiskretion und Connie Bowes’ Erpressung erzählt hatte, hatte Jack den Anwalt gebeten, Connies Hintergrund ein wenig zu durchleuchten. Jetzt befiel ihn dabei leichtes Unbehagen, als verhielte er sich dadurch Sally gegenüber nicht loyal. Er dachte an ihren offenen Blick und an die Aufrichtigkeit, die sie ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte. Wie doppelzüngig ihre Schwester auch sein mochte, so hatte Sally ihm sicherlich die Wahrheit gesagt, als sie ihm versichert hatte, von der ganzen Sache nichts gewusst zu haben. Alles, was er nun tun konnte, war, die Angelegenheit bestmöglich zu klären, ohne Sally zu verletzen.
Mr. John Churchward von der Kanzlei Churchward, Churchward und Boyce saß auf einem Stuhl in der Bibliothek, die Aktentasche auf seinen Knien, und wirkte leicht nervös. John Churchward war der letzte in einer langen Reihe von Churchwards, die den Kestrels seit vielen Jahrzehnten als Anwälte zur Seite standen. Der Name Boyce im Kanzleinamen bezog sich auf einen erst in jüngerer Zeit hinzugekommenen Partner, dem Jack noch nie begegnet war. Alle seine geschäftlichen Angelegenheiten, einschließlich des traurigen Treffens kurz vor seiner Verbannung vor zehn Jahren, waren von diesem Mann abgewickelt worden, einer hageren, leicht gebeugten Gestalt, die die nervöse Angewohnheit hatte, sich ständig die Brille zurechtzurücken, und deren Alter unbestimmbar war. Vor zehn Jahren hatte Mr. Churchward die unglückliche Aufgabe gehabt zu bestätigen, dass Jacks Vater nicht gewillt war, ihm während seiner Verbannung irgendwelchen Unterhalt zu zahlen. Nach Jacks Rückkehr als reicher Mann war Mr. Churchward, der nicht einen Tag gealtert zu sein schien, aufrichtig erfreut gewesen, ihn wiederzusehen und festzustellen, dass Jack erfolgreich selbst ein Vermögen gemacht
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