HISTORICAL BAND 295
zog sich Violet ihr feines gelbes Kleid an. Das Kaminfeuer in ihrer Kammer vermochte nichts gegen das Unbehagen auszurichten, das ihr über die Haut kroch. Sie war vom Fluss nach Hause zurückgekehrt, doch außer ihrem Vater befand sich kein Mann im Wohnturm. Keiner seiner Ritter saß mit ihm in der Halle, aus Angst, von ihm zum Kämpfer gegen das Unheil erklärt zu werden – oder vielleicht fürchteten sie sich auch davor, als ihr Gemahl auserwählt zu werden. Einige von ihnen waren der Ansicht, ihr Vater habe ihre Erziehung vernachlässigt. Und möglicherweise stimmte das. Sie passte besser in die Wälder als in die Küche, liebte es, Kräutermixturen auszuprobieren oder im Erdreich nach Wurzeln für neue Heilmittel zu graben.
Doch trotz ihrer unangepassten Art würde eine Heirat mit ihr für den potenziellen Ehemann Wohlstand und Landbesitz bedeuten.
„Violet?“ Innas Stimme war durch die Zimmertür zu hören. „Euer Vater will Euch in der Halle sehen.“
„Gleich“, murmelte Violet, die bei dem Gedanken, ihrem Vater unter die Augen zu treten, nachdem niemand seinem Aufruf gefolgt war, unruhig wurde.
Sie durchwühlte ihre Kleidung auf der Suche nach einem Tuch, um den Hals zu bedecken. Von Morags missglückter Mixtur juckte ihr die Haut.
Als sie ihr feinstes Seidentuch gefunden hatte, schaute sie in den kleinen Spiegel, der an der Innenseite des Schranks angebracht war. So, wie ihre Augen glänzten, hatte sie Fieber. Gewiss war es nicht klug gewesen, in nassen Kleidern nach Hause zu reiten, doch die Begegnung mit dem Highlander hatte sie beunruhigt. Was für ein überheblicher Kerl! Er war sich vollkommen sicher gewesen, von ihrem Vater erwählt zu werden, obwohl er noch nicht einmal den Weg zur Burg kannte.
Sie band sich das Tuch um und eilte aus dem Zimmer.
„In welcher Stimmung ist er?“, erkundigte sie sich bei Inna, die mit einer Fackel auf dem Gang wartete.
„Verbittert und grüblerisch“, antwortete die Magd und ging voran, um ihr den Weg zu leuchten.
Jeder Bewohner von Caladan hatte die Stimmungen des Earls stets im Blick. Nach der schweren Kriegsverletzung hatte sich der einst so beliebte Fürst in einen unwirschen Tyrannen verwandelt.
„Wir sollten ihn rasch ablenken“, sagte Violet. „Die Jongleure und den Minnesänger schicken wir erst einmal fort. Für heute Abend ist es besser, du spielst etwas auf der Laute. Ihm gefallen deine Lieder.“
„Ach“, erwiderte Inna missmutig, „Ihr meint, weil ihn meine Musik immer einschläfert.“
„Ich sollte vielleicht sagen, die übrigen Anwesenden schätzen die Wirkung, die deine Balladen auf ihn haben.“ Violet straffte die Schultern, während sie sich der Halle näherten.
Als sie lautes Männergelächter vernahm, hielt sie inne, und der Schreck fuhr ihr in die Glieder.
Sie trat gerade rechtzeitig über die Schwelle, um zu sehen, wie ihr Vater dem größten Mann, dem sie je begegnet war, eine Hand auf die Schulter legte. Niemand anderem als dem Highlander, dem sie am Flussufer eine Abfuhr erteilt hatte.
Sie unterdrückte ein Stöhnen.
Der Anblick des breitschultrigen Kriegers hatte eine unmittelbare und heftige Wirkung auf sie. Sein Kettenhemd glänzte bronzefarben im Licht des Feuers. Die Ärmel seines Waffenrocks waren kunstvoll bestickt, und sie erspähte den Griff eines kostbaren fränkischen Schwerts an seiner linken Seite.
Auch seine Miene signalisierte kriegerische Entschlossenheit. Die breite Stirn und die gerade Nase schienen wie gemeißelt. Nur sein Haar verlieh ihm menschlichere Züge. Die dunklen Locken fielen ihm über die Schultern, ohne verfilzt und stumpf zu sein wie bei den meisten Männern.
Zweifellos war er eine eindrucksvolle Erscheinung. Doch das erklärte nicht, weshalb die Hitze auf ihrer Haut von einem Moment auf den anderen zu lodern begann und sich wie ein Feuer auf den Brüsten ausbreitete.
„Dies ist meine Tochter Violet.“ Ihr Vater winkte sie heran. „Tochter, komm her und begrüße unseren ehrenwerten Gast Finn Mac Néill.“
Der Highlander starrte sie mit seinen eisig blauen Augen an. Obgleich es unmöglich schien, erhitzte sich ihre Haut noch mehr, und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg.
Zögerlich ging sie auf die Männer zu, die vor dem Kamin standen.
„Ein Highlander“, bemerkte sie törichterweise. Dann besann sie sich und begrüßte ihn höflich. „Ich heiße Euch herzlich willkommen, Sir.“ Sie machte einen tiefen Knicks. „Wir bekommen in Caladan selten
Weitere Kostenlose Bücher