HISTORICAL BAND 295
wirkte. Ihm war ein Schwert tief in die Seite gestoßen worden, sein Waffenrock war mit Blut getränkt, doch sie fühlte noch einen schwachen Puls. Zügig schnitt sie den Waffenrock und das Hemd darunter auf, dann konnte sie die klaffende Wunde sehen. Sie war tief, aber zumindest war es ein glatter, sauberer Schnitt. Elgiva versuchte zuerst, die Blutung zu stillen. Als sich dabei auf einmal ein Schatten über sie schob, hob sie erschrocken den Kopf. Halfdan stand vor ihr und musterte einen Moment lang den Verletzten. So verschmutzt er auch war, konnte man dennoch deutlich erkennen, dass seine Kleidung die eines Edelmanns war.
„Wer ist das?“
Elgiva brachte kein Wort heraus, und so antwortete Osgifu. „Das ist Lord Aylwin.“
„Ein angelsächsischer Lord?“ Halfdan sah zwischen den beiden Frauen hin und her. „Dein Vater, Elgiva?“
„Nein, mein Vater ist tot.“
„Ah, dann vielleicht dein Ehemann?“ Halfdan griff unwillkürlich zum Heft seines Schwerts.
Elgiva schluckte einen entsetzten Aufschrei hinunter. Wenn Wulfrum sie tatsächlich heiraten sollte, dann durfte sie nicht bereits vermählt sein. Wenn der Wikinger Aylwin für ihren Ehemann hielt, würde er ihn auf der Stelle töten. „Er ist nicht mein Ehemann, aber ich bin ihm versprochen.“
Der Nordmann entspannte sich und meinte lachend: „Jetzt nicht mehr.“
Während sie ihm nachsah, atmete Elgiva tief durch, um sich zu beruhigen. Sie schaute kurz zu Osgifu, dann legte sie mit zitternden Fingern einen Verband an. Es war unwahrscheinlich, dass Aylwin die Nacht überleben würde, und insgeheim sagte sie sich, dass es sogar besser wäre, wenn er starb. Ansonsten erwartete ihn ein Leben in Sklaverei, in das er sich niemals fügen würde. Und erst recht würde er seine Verlobte nicht kampflos aufgeben. Elgiva schluckte angestrengt. Aylwin war noch einmal mit dem Leben davongekommen, aber für wie lange?
Sie und Osgifu arbeiteten weiter, bis alle Verwundeten versorgt waren. Die Sonne war bereits vor einer Weile untergegangen, und sie beide waren todmüde. Elgiva fragte sich, ob sie sich je wieder vom Gestank nach Blut und Tod würde befreien können, der ihr in der Nase hing. Jeder Knochen tat ihr weh, ihr Kleid starrte vor Blut und Dreck. Gemeinsam mit Osgifu zog sie sich ins Frauengemach zurück, und sobald sie sich davon überzeugt hatte, dass die Kinder gut aufgehoben waren, wusch sie Gesicht und Hände, um sich von den Erinnerungen an die letzten Stunden zu befreien.
„Ach, Gifu, so viele gute Männer wurden getötet.“
Obwohl die Angelsachsen tapfer gekämpft hatten, hatten sie am Ende eine bittere Niederlage erlitten. Nun waren die Nordmänner die neuen Herrscher, und jeder überlebende Angelsachse war ihnen ausgeliefert. Allein der Gedanke daran, wozu diese Horde fähig war, ließ ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen.
„Aye, aber einige unserer Krieger sind entkommen. Die Wikinger haben Trupps ausgesandt, um nach ihnen zu suchen, doch sie werden nicht alle finden.“
„Sie werden uns aber auch nicht mehr helfen können“, entgegnete Elgiva. „Dafür ist es zu spät.“ Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder das Bild des Mannes mit den markanten Gesichtszügen und beängstigenden blauen Augen. Hastig verdrängte sie es und kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Nein, sie würde den Wikinger nicht heiraten.
Osgifu unterbrach ihren Gedankengang, indem sie sagte: „Der Wald ist weitläufig und bietet viele Verstecke.“
„Aye, wenn man sich dort auskennt und weiß, wo man diese Verstecke findet.“
Elgiva wandte sich ab, und obwohl Angst und Verzweiflung ihr beinahe den Verstand vernebelten, kam ihr eine Idee. Sie kannte die Wege durch die Wälder bestens, weil sie dort oft zusammen mit Osgifu unterwegs gewesen war, um Heilkräuter zu sammeln. Sie konnte nicht abwarten, ob die Angelsachsen sich gegen die Eroberer auflehnen würden oder ob Aylwin durchkommen würde. So viel Zeit hatte sie nicht. Plötzlich bemerkte sie, dass die Luft im Gemach erstickend war. Langsam ging sie zur Tür.
Elgiva biss sich auf die Unterlippe. Wenn sie es unentdeckt bis zum Tor schaffte, hätte sie eine Chance, das freie Feld zu überqueren und sich in den Schutz der Bäume zu retten. Die Wikinger hatten ihr Lager in der entgegengesetzten Richtung aufgeschlagen. Wie es nach ihrer Flucht weitergehen sollte, wusste sie zwar noch nicht so genau, aber sie könnte versuchen, die anderen Landsleute zu finden, die der Wikingerhorde
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