HISTORICAL BAND 295
doch ihr Gefühl riet ihr, ihn besser nicht zu belügen. Eine Flucht war nicht möglich, da Eisenfaust ihr den Weg nach draußen versperrte. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Sie atmete einmal tief durch.
„Osgifu und ich haben einem Verletzten geholfen.“
„Wer ist der Mann? Wo befindet er sich?“
„Leofwines Bruder Hunfirth. Er wurde in der Schlacht um Ravenswood verwundet und hat Zuflucht im Wald gesucht.“
„Wie viele sind bei ihm?“
„Nur ein Mann.“
„Wo sind die beiden?“
„Dort, wo wir sie zurückgelassen haben.“
„Strapazier nicht meine Geduld, Elgiva. Wo sind sie?“
„Das kann ich Euch nicht sagen.“
„Kannst du es nicht oder willst du es nicht?“
„Sie gehören zu meinem Volk, und ich werde mein Volk nicht verraten.“
„Du wirst es mir sagen“, gab er ungerührt zurück.
Zum ersten Mal bemerkte sie, dass er eine aufgerollte Peitsche an seinem Gürtel trug. Vor Schreck bekam sie weiche Knie. Wenn man damit umzugehen verstand, konnte man selbst in massivem Holz eine Kerbe hinterlassen. Und sie hatte gesehen, was eine solche Peitsche erst auf einem menschlichen Körper anzurichten vermochte. Er hatte doch nicht ernsthaft vor, sie damit zu bestrafen? Hastig suchte sie in seiner Miene nach einem Hinweis, doch vergebens. Ihr fiel ein, wie er auf ihren letzten Fluchtversuch reagiert hatte. Angstschweiß trat ihr auf die Stirn, als sie sich vor Augen hielt, dass der Wikinger mit Bestrafungen nicht zögerte. Gewiss würde er auch die Peitsche benutzen. Sie biss sich auf die Lippe und ballte die Hände, damit ihre Finger nicht länger zitterten. Egal, was kommen würde, sie durfte Hunfirth und Brekka nicht verraten. Sollte dieser Krieger ihr doch antun, was er wollte, sie würde ihm niemals sagen, was er von ihr wissen wollte. Trotzig hob sie das Kinn und hielt seinem eindringlichen Blick stand.
„Ich bin eine Heilkundige, Herr. Es ist meine Aufgabe, Menschenleben zu retten, nicht zu vernichten. Leofwine hat mich um Hilfe gebeten, und ich habe sie ihm gewährt. So wie ich auch Euren Verletzten geholfen habe. Wie ich mich um jeden Menschen kümmern würde, der meine Hilfe benötigt. Wenn das ein Verbrechen ist, dann tut es mir leid.“
„Nein, das ist kein Verbrechen, aber es ist eines, meine Befehle zu missachten.“
„Mir war nicht bekannt, dass Ihr befohlen habt, verwundete Männer sterben zu lassen.“
„Dreh mir nicht die Worte im Mund um, Weib.“
„Das war nicht meine Absicht, Herr.“
„Es scheint, dass du genügend Komplizen hast, die dich bei deinen Unternehmungen unterstützen.“
„Leofwine bat mich, seinem Bruder zu helfen. Osgifu und Hilda haben wiederum mir geholfen, weil ich sie darum gebeten habe. Sie trifft keine Schuld. Wenn Euer Zorn jemanden treffen sollte, dann mich.“
Wulfrums Blick schien sie durchbohren zu wollen, doch sie hielt ihm stand, auch wenn sie insgeheim damit rechnete, dass er sie töten würde.
„Womöglich wirst du diese Worte irgendwann bereuen.“
„Ich flehe Euch an, Herr, tut ihnen nichts. Sie hatten keine Wahl, als zu tun, was ich ihnen auftrug.“
„Auf jeden Fall haben sie eine unüberlegte Loyalität dir gegenüber erkennen lassen.“
„Auch Loyalität ist kein Verbrechen.“
Wulfrum presste wütend die Lippen zusammen, auch wenn er innerlich die Kühnheit bewunderte, mit der sie ihre Antworten aussprach. Er musste zugeben, dass es dieser zierlichen Frau nicht an Mut mangelte. Obwohl sie genau wusste, in welcher Gefahr sie schwebte, kamen ihr alle Erwiderungen völlig ruhig über die Lippen. Sie hatte ihn auch nicht belogen, da sie zweifellos erkannt hatte, dass er die Wahrheit längst von ihren Komplizen erfahren hatte. Eigentlich sollte er sie alle für dieses Vergehen bestrafen, und tatsächlich fühlte er sich noch immer versucht, das zu tun.
Als er im Lauf des Nachmittags das Gemach betreten und sie nicht vorgefunden hatte, war seine Wut grenzenlos gewesen. Hilda hatte ihm sehr schnell verraten, welchen Plan sie ausgeheckt hatten, und die Wachen hatten bestätigt, dass zwei Frauen das Gemach verlassen hatten. Da hatte sich Eisenfaust daran erinnert, dass er im Lauf des Tages gesehen hatte, wie Elgiva mit dem Schmied sprach.
Also suchte Wulfrum zusammen mit einem halben Dutzend Krieger den Schmied auf. Der Mann lieferte ihm fast umgehend alle Informationen, die er hören wollte. Die Geschichte von dem Verwundeten erschien ihm sofort plausibel, aber er konnte nicht glauben,
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