HISTORICAL BAND 295
diesen Gedanken gleich wieder. Niemals könnte sie kaltblütig einen Menschen töten. Abgesehen davon hatte er sie in der vergangenen Nacht vor der völligen Demütigung bewahrt. Und er war nicht über sie hergefallen. Wieso eigentlich nicht? Es war sein Recht, sie zu nehmen, und trotzdem hatte er darauf verzichtet. Dieser Mann war ein wahres Rätsel: auf der einen Seite ein furchterregender Krieger, auf der anderen Seite zu Mitgefühl fähig. So sehr sie ihn auch hasste, dieser Widerspruch machte ihn zugleich faszinierend.
Vorsichtig verließ sie das Bett und suchte ihr Unterkleid. Als ihr gleich darauf einfiel, was damit geschehen war, begannen ihre Wangen vor Scham zu glühen. Sie nahm eines der Felle vom Bett und wickelte sich darin ein, dann ging sie auf Zehenspitzen zum Fenster und warf einen Blick durch den Spalt zwischen den Läden. Nichts regte sich draußen, weder auf dem Innenhof noch dort, wo Halfdans Männer ihr Lager aufgeschlagen hatten. Zweifellos fühlten sich heute Morgen viele von ihnen nach dem Gelage am gestrigen Abend elend, hatten sie doch mehr Ale und Met getrunken, als sie vertragen konnten. Sie wandte sich vom Fenster ab und überlegte, ob sie ihr Kleid einfach so anziehen sollte. Ohne Untergewand wäre das nicht allzu bequem, allerdings hatte sie keine andere Wahl, es sei denn, sie wollte in ein Fell gehüllt dieses Gemach verlassen und in ihr eigenes gehen, wo die Truhe mit ihren Kleidern stand.
Sie sah sich weiter im Raum um. Wulfrums Kleidung lag am Boden, wo er sie zusammen mit seinem Schwert achtlos hatte fallen lassen. Sie schlich hin, wobei ihre nackten Füße auf dem Holzboden keine Geräusche verursachten. Vorsichtig hob sie die schwere Waffe und musterte interessiert das Heft. Es war aus Eisen gefertigt, zum Teil vergoldet und mit Kupferdraht umwickelt, der Knauf war mit rotem Jaspis verziert. Sie umfasste das Heft und zog das Schwert aus der Scheide, um sich die Klinge anzusehen. In deren Mitte entdeckt sie eine Rinne, durch die das Blut hinunterlaufen konnte. Elgiva musste nicht erst die Schneide berühren, um zu erkennen, dass sie scharf geschliffen war. Das hier war eindeutig die Waffe eines wahren Kriegers.
„Hast du vor, mich mit meinem Schwert zu ermorden, Elgiva?“
Erschrocken wirbelte sie herum und bemerkte, dass Wulfrum sie vom Bett aus beobachtete. Schnell fasste sie sich wieder und schob die Klinge zurück in die Scheide. „Nein, lebend nutzt Ihr mir mehr. Aber es ist ein sehr schönes Schwert.“
„Es heißt Drachenzahn.“
„Ein passender Name.“ Sie legte es zurück auf den Boden.
„Es wurde von einem Schmied angefertigt, der bei unserem Volk einen hervorragenden Ruf genießt. Er schmiedete es für Fürst Ragnar, von dem ich es dann geschenkt bekam.“
„Ein kostbares Geschenk. Ihr müsst bei ihm in großem Ansehen gestanden haben.“
„Er war für mich wie ein Vater.“
Elgiva schaute kurz auf das Schwert hinab, dann kehrte ihr Blick zu Wulfrum zurück. Seine Augen verrieten nichts von dem, was in ihm vorging. Mit einem Mal wurde ihr einiges klar.
„Und als König Ella Fürst Ragnar tötete, da habt Ihr geschworen, seinen Tod zu rächen“, folgerte sie.
„Natürlich. Ich legte mit seinen Söhnen einen Blutschwur ab. Mit meinen Schwertbrüdern. Es war eine Frage der Ehre.“
„Es mag ja eine Frage der Ehre gewesen sein, König Ella zu töten“, gab sie zurück. „Aber müssen deshalb auch Unschuldige abgeschlachtet werden?“
„Könige sind keine gewöhnlichen Männer. Die Entscheidungen, die sie fällen, betreffen auch ihre Untertanen, im Guten wie im Schlechten. Als Ella Fürst Ragnar in die Bärengrube stieß, da ermordete er nicht nur einen großartigen Krieger, sondern er beleidigte ihn auch noch auf das Ärgste. Ein Krieger muss mit dem Schwert in der Hand sterben, sonst gelangt er nicht nach Walhalla. Ella hat ihm dieses Recht verweigert und damit sein eigenes Schicksal ebenso wie das seines Königreichs besiegelt.“
Elgiva biss sich auf die Lippe, da sie wusste, dass in diesen Worten mehr als nur ein Körnchen Wahrheit steckte. Außerdem hatten die Herrscher in Northumbria einander jahrelang bekriegt. Hätten sie ihre Kräfte vereint, hätten sie die Wikinger möglicherweise abwehren können.
Da Wulfrum ahnte, was sie in diesem Moment dachte, legte er die Stirn in Falten. „Es führt zu nichts, das Geschehene zu beklagen. Was passiert ist, ist passiert.“
„Das ist wahr. Aber Ihr solltet nicht erwarten, dass ein erobertes
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