HISTORICAL BAND 295
Wulfrum hinter ihr und legte seine Hände auf ihre, woraufhin Elgiva förmlich erstarrte. Hatte er es sich etwa anders überlegt? Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. Er hatte zwar wieder dieses spöttische Lächeln aufgesetzt, aber er tat nichts anderes, als den Riegel anzuheben und aus der Halterung zu ziehen. Vor Erleichterung bekam Elgiva weiche Knie. Sie wollte auf der Stelle die Tür aufstoßen, doch er hielt sie zu.
„Ich werde veranlassen, dass deine Sachen hergebracht werden.“
„Ich habe meine eigene Schlafkammer.“
„Von nun an wirst du dieses Gemach mit mir teilen“, erklärte er. „Du kannst mich lieben oder verabscheuen, aber du wirst feststellen, dass ich es mit dieser Ehe ernst meine.“ Sein Tonfall war ruhig, aber bestimmt. Da sie seinen eindringlichen Blick nicht länger ertrug, wandte sie sich ab. Zu ihrer unbeschreiblichen Erleichterung öffnete er ihr schließlich die Tür und ließ sie hinausgehen.
Zurück in ihrem Gemach, ließ sich Elgiva kraftlos und am ganzen Leib zitternd aufs Bett sinken. Die Tränen, die sie bis eben zurückgehalten hatte, liefen ihr nun in Strömen über die Wangen, die aufgestaute Angst und Anspannung der letzten Woche bahnten sich mit lauten Schluchzern den Weg nach draußen. Sie weinte um den Verlust ihrer Nächsten und ihres Heims, und sie weinte um ein früheres Leben, in das sie niemals würde zurückkehren können.
Als Elgiva sich wieder beruhigt hatte, brachte Osgifu ihr heißes Wasser und half ihr, den Geruch des Ehebetts abzuwaschen. Dann zog sie ihr ein sauberes Unterkleid und ein blaues Gewand an, kämmte ihr das Haar und flocht es zu einem langen Zopf. Nachdem auch das erledigt war, stellte Osgifu fest, dass von dem verängstigten Mädchen nichts mehr wahrzunehmen war. Stattdessen sah sie eine erhabene, wunderschöne Frau vor sich.
Elgiva verließ die Kammer. Inzwischen herrschte wieder Leben im Großen Saal, doch sie verspürte nicht das Verlangen, einem Wikinger über den Weg zu laufen. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass niemand in der Nähe war, ging sie zu den Ställen, wo ihre Stute untergebracht war. Das Pferd hatte kaum ihre Schritte gehört, da begann es bereits leise zu wiehern und drehte den Kopf in ihre Richtung. Das Tier drückte die Nüstern gegen ihre Handfläche, und Elgiva wünschte, sie hätte einen Apfel mitbringen können. Sie streichelte das glänzende Fell am Hals des Pferdes und ließ ihren geschulten Blick über dessen Körper wandern. Zu ihrer großen Erleichterung war mit ihm alles in Ordnung. Auch die übrigen Pferde im Stall waren gut gepflegt. Offensichtlich waren diese Tiere den Wikingern zu wichtig, als dass sie sie sinnlos abschlachten würden. Das Zaumzeug hing wie gewohnt am Haken gleich hinter dem Eingang und weckte in ihr für einen Moment den Wunsch, einfach davonzureiten, um mit nichts und niemandem auf Ravenswood mehr etwas zu tun zu haben.
Aber ihr war natürlich klar, dass das nicht möglich war. Auch wenn sie nun Wulfrums Ehefrau war, würde sie letztlich immer eine Gefangene bleiben, nicht frei, das zu tun, wonach ihr der Sinn stand. Die Kriegsmeute würde bald aufbrechen, dann war Wulfrum der einzige Herrscher über Ravenswood – und über sie. Elgiva seufzte leise. Das Pferd verkörperte die Freiheit, die man ihr genommen hatte und die sie niemals zurückerlangen konnte. Ravenswood war nicht länger ihr Zuhause, sondern ihr Gefängnis, in dem man sie in Ketten gelegt hatte. Nur der Tod konnte dem ein Ende setzen. In Anbetracht der trostlosen Aussichten wäre der Tod vielleicht sogar der Zukunft vorzuziehen, die auf sie wartete. Doch dann erinnerte sie sich an Osgifus Worte, dass sie ihre Leute nicht im Stich lassen durfte. Betrübt streichelte sie ein letztes Mal den Hals ihres Pferds, dann verließ sie schweren Herzens den Stall.
Als sie nach draußen kam, bemerkte sie, dass etliche Leute in einer ernsten Prozession zu den Gräbern unterwegs waren. Unwillkürlich erschrak sie und fragte sich, wer nun gestorben sein mochte, doch dann erinnerte sie sich an Wulfrums Versprechen, die letzte Ruhestätte der Getöteten segnen zu lassen. Sie war erleichtert und auch ein wenig erstaunt, dass er Wort gehalten hatte. Zwar wimmelte es überall von Wikingern, doch keiner von ihnen versuchte zu stören. Sweyn hielt sich im Hintergrund und grinste sie boshaft an. Elgiva ignorierte ihn und konzentrierte sich stattdessen auf den Priester und auf die Worte, die seinen Segen begleiteten.
Während sie
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