HISTORICAL BAND 295
nicht den Grund dafür. Da Wulfrum aber neben ihr stand, konnte sie nicht nachfragen. Er bot ihr seinen unversehrten Arm an, sie hakte sich zögernd bei ihm unter.
Schweigend gingen sie nebeneinander her, hin und wieder sah Elgiva ihn an und fragte sich, weshalb er zu ihr gekommen war. Wie es schien, waren sie unterwegs zu den Ställen.
„Ich dachte, du würdest vielleicht gern nach Mara sehen“, erklärte er schließlich.
Überrascht hob sie den Kopf. Jede Gelegenheit, ihr Pferd zu besuchen, war ihr mehr als willkommen. Aber woher wusste er das? Er äußerte sich nicht weiter dazu, sondern trat zur Seite, um ihr den Vortritt in den Stall zu lassen. Gemeinsam begaben sie sich dann zu dem Verschlag, in dem Mara untergebracht war. Als das Pferd Elgiva bemerkte, drehte es den Kopf in ihre Richtung und wieherte ganz leise.
„Hier, das dürfte ihr schmecken.“ Wulfrum holte einen verschrumpelten Apfel hervor. „Der ist zwar aus der Ernte vom letzten Jahr, aber ich nehme nicht an, dass sie sich daran stört.“
Er sollte recht behalten, die Stute kaute das Obst genüsslich. Während Elgiva ihr über das glänzende Fell am Hals strich, beobachtete sie aus dem Augenwinkel unauffällig ihren Ehemann. Diese verborgene Seite von ihm hatte sie schon einmal beobachten können, als er Ulric getröstet hatte. Er mochte Kinder, und Pferde mochte er wohl auch. Als sie ihren Blick durch den Stall wandern ließ, entdeckte sie seinen Hengst, der an einem Stützbalken angebunden war. Dieses stolze, hochgewachsene Tier brauchte einen starken Reiter, und Wulfrum war genau der Richtige, um es zu zügeln. Die Art, wie er mit dem Pferd umging, ließ sie vermuten, dass er es persönlich gezähmt hatte.
„Wie lange hast du Feuerdrache schon?“
„Seit zwei Jahren“, antwortete er und grinste. „Anfangs war er ziemlich ungestüm. Er war wild und machte immer das Gegenteil von dem, was ich wollte.“ Er sah Elgiva an und kam zu der Erkenntnis, dass sie sich vom Wesen her gar nicht so sehr von seinem Pferd unterschied – außer dass Feuerdrache mittlerweile tat, was er sagte.
„Er ist ein schönes Tier“, ließ sie ihn wissen.
„Das ist deine Stute auch. Dein Vater hat sie gut ausgesucht.“
Einen Moment lang schwieg Elgiva, betrachtete ihr Pferd und streichelte es am Kopf. Als Wulfrum an die letzte Unterhaltung zurückdachte, die er mit ihr hier im Stall geführt hatte, konnte er innerlich nur den Kopf darüber schütteln, wie unglaublich taktlos er gewesen war.
„Willst du sie immer noch zur Zucht benutzen?“, fragte Elgiva schließlich.
„Nicht ohne dein Einverständnis. Immerhin ist sie dein Pferd.“
Ihr Erstaunen entging ihm nicht, und er sah auch den Ausdruck von unerwarteter Freude in ihren Augen. Erst nach einigen Augenblicken war sie in der Lage, etwas zu erwidern.
„Danke, Wulfrum. Sie bedeutet mir sehr viel.“
„Ich weiß.“
Sie freute sich unermesslich über seine Worte, die bewiesen, dass ihre Gefühle ihm tatsächlich wichtig waren. Bewegt legte sie ihm eine Hand auf den Arm. „Mara bedeutet mir viel, aber was du gerade gesagt hast, bedeutet mir noch mehr.“
Wulfrum verspürte eine ungewohnte Wärme in sich aufsteigen, aber da er nicht wusste, was er erwidern sollte, schwieg er einfach und lächelte.
Gemeinsam verließen sie den Stall und schlenderte ziellos dahin, bis sie den Obstgarten erreicht hatten. Die Sonne schien, und es war angenehm, sich im Schatten der Obstbäume zu bewegen. Eine Weile schwiegen sie, und jeder genoss nur die Gegenwart des anderen. Unvermittelt blieb Wulfrum stehen, nahm seinen Umhang ab und breitete ihn auf dem Gras aus.
„Komm, ruhen wir uns eine Weile aus, Elgiva. Es ist so ein schöner Tag.“
Sie setzte sich zu ihm und war sich seiner körperlichen Nähe überaus bewusst. Sie konnte einfach den Blick nicht abwenden von den markanten Linien seines Kinns, den ausgeprägten Wangenknochen, dem sinnlichen Schwung seiner Lippen, die sie an seine Küsse denken ließen. Erschrocken über die Richtung, die ihre Gedanken einschlugen, sah sie hastig zur Seite.
Wulfrum fiel ihre Verwirrung kaum auf. Tatsächlich kreisten seine Gedanken in diesem Moment um das Land ringsum, sein Land. Hier war der Boden fruchtbar genug, um Wohlstand zu versprechen, hier konnte sich ein Mann niederlassen und zu Hause fühlen. Er musste an sein Geburtsland denken, an den Hof, auf dem er aufgewachsen war. Damals hatte es für ihn daran nichts auszusetzen gegeben, aber er hatte natürlich
Weitere Kostenlose Bücher