Historical Weihnachtsband 1990
lassen, dem bis dahin zu folgen er so hart gearbeitet hatte. Deshalb ging er gegen dieses Verlangen an, wenn es ihm auch große Mühe bereitete.
„Nein, das ist vorbei", erklärte er. „Ich habe mich anders entschieden, und diese Wahl ist gut für mich. Vielleicht werde ich eines Tages als reicher, fetter alter Mann zurückkehren." Lächelnd wandte er sich zu Mary um, doch das Lächeln war traurig.
„Wer weiß? Vielleicht werde ich eines Tages ein Haus wie dieses haben. Vielleicht werde ich mich dorthin zurückziehen, wenn ich alt bin. Aber bis dahin brauche ich, was Boston mir bieten kann."
„Und was wäre das?" fragte sie einfühlsam. Doch gleichzeitig spürte sie ein schmerzliches Gefühl in ihrer Brust.
„Macht", zählte er auf, „Erfolg, Reichtum und Ansehen — alles, was man mit Geld kaufen kann. Und genug davon, so daß ich nie mehr unter Unsicherheit leiden muß."
„Ich verstehe", meinte Mary, obwohl die Qualen schlimmer wurden. „Vermutlich würde ich dasselbe empfinden, wenn ich durchgemacht hätte, was Sie erlebt haben."
„Nein", erwiderte er kopfschüttelnd. „Das glaube ich nicht. Ich denke, Sie würden Boston und all das andere gegen dieses alte Haus eintauschen. Ich glaube nicht, daß Sie sich durch Reichtum verführen lassen würden."
„Sie denn?" wollte sie wissen.
War er dem Geld verfallen? Er furchte die Stirn. Nein, Verführung war es nicht, denn er war immer mit offenen Augen durch die Welt gegangen. Aber während er in diesem leeren Zimmer stand, konnte er den Sinn seines Lebens nicht ganz erfassen.
Zum erstenmal seit zwölf Jahren war der Ansporn verschwunden — oder möglicherweise der Zorn, der ihn immer angetrieben hatte. Das war ein seltsames Gefühl, ein höchst beunruhigendes.
Mary beobachtete ihn immer noch. Dabei hatten ihre braunen Augen einen nachdenklichen und gütigen Ausdruck. Unsicher wandte er sich ab.
„Was ist mit dem ersten Stock? Schauen wir ihn uns auch an, oder haben Sie genug?"
Sie antwortete nicht und rührte sich einen Moment auch nicht. Doch dann nickte sie und ging in den Flur voraus.
Im ersten Stock befanden sich vier Schlafzimmer, von denen eins größer war als die anderen. Die Fenster dieses Raums gingen nach Osten, zu den Bergen und der Morgensonne hinaus.
„Das ist Tante Alices Zimmer gewesen", erläuterte Mary und machte eine umfassende Armbewegung. „Davor hatten ihre Mutter und ihre Großmutter darin gelebt. Alle Kinder der Hillyers sind hier geboren worden. Auch mein Vater hat hier seine Kindheit erlebt. Es ist so schade, daß hier keine . . ." Sie brach ab und wandte sich dem Fenster zu, um ihre aufsteigenden Tränen zu verbergen.
Als Mädchen hatte sie davon geträumt, daß sie mit ihrem Mann in diesem Haus leben und ihre eigenen Kinder in diesem Zimmer bekommen würde. Nun, in der Winterkälte, konnte selbst das geliebte Haus die Trauer über das, was ihr versagt blieb, nicht lindern. Wie Jack Gates unten über seinem Kummer geredet hatte, wünschte sie sich, über ihre eigenen gescheiterten Hoffnungen sprechen zu können.
Doch das ging natürlich nicht. Wenn sie die Ehe erwähnen würde, brachte sie Gates damit in Verlegenheit.
Während Mary noch die Lippen zusammenpreßte, um die Worte zu unterdrücken, hatte sie den sehnlichen Wunsch, mit Jack hier zu leben.
Jack Gates schaute auf Marys gesenkten Kopf und fragte sich, ob es möglich war, daß er ihre Gedanken las oder doch wenigstens ihre Gefühle erkannte. Beim Frühstück am Morgen hatte er ihre Qualen erfaßt und sich innerlich gewunden. Nun spürte er kein Zurückweichen, sondern dieselbe Sehnsucht wie zuvor unten im Erdgeschoß.
Als er sich Mary näherte, verschloß sie sich ihm nicht.
„Mary?" hauchte er, und als sie den Kopf hob, schaute er in tränenfeuchte Augen. Diesmal zögerte er nicht. Er faßte sie an den Schultern und küßte Marys zuckende Lippen.
Wie er sie sich vorgestellt hatte, waren sie weich und voll süßer Versprechungen.
Statt Trost, wie Jack geglaubt hatte, fand er Sinnlichkeit. Das kalte, kahle Zimmer schien sich aufzulösen, und er fühlte sich in grüne, blumenübersäte Wiesen und an klares Wasser versetzt.
Er ließ die Hände über Marys Rücken gleiten und preßte sie an sich. Plötzlich erfüllte ihn der mächtige Drang, Mary zu lieben und zu beschützen. Gleichzeitig jedoch stiegen Schuldgefühle in ihm auf. Sie konnten diesen Augenblick genießen, vielleicht sogar die folgende Woche, aber er konnte Mary nicht geben, was sie
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