Historical Weihnachtsband 1991
Sicht. Geschwind schlüpfte sie zur Treppe und begann auf Zehenspitzen hinunterzugehen. Sie hegte einen leisen Verdacht, in wessen Haus sie sich befand.
„Guten Morgen."
Amelia blieb stehen. Am Fuß der Treppe stand Yancy, völlig angekleidet und putzmunter. „Was tue ich hier?" verlangte sie zu wissen.
„Ihren Rausch ausschlafen. Das Frühstück wartet bereits auf sie."
Indem sie ihre langen Röcke ein klein wenig anhob, schritt sie die Treppe weiter hinab. „Ich möchte kein Frühstück. Ich möchte nach Hause. Sofort!"
„Ich wäre ein schlechter Gastgeber, wollte ich Sie mit leerem Magen von dannen ziehen lassen."
„Gastgeber, daß ich nicht lache!" Sie machte ein paar Schritte auf die Haustür zu und blieb wieder stehen. „Ist sie verschlossen?" fragte sie, ohne sich umzudrehen.
Yancy verzog das Gesicht zu einem Grinsen. „Sie haben aber eine lebhafte Phantasie. Für wen halten Sie mich eigentlich?"
„Ich glaube kaum, daß Sie meine Antwort daraufhören wollen." Sie wandte sich um und sah dem Feind ins Auge. „Wie bin ich aus den Kleidern gekommen?"
„Ein Hausmädchen hatte das Vergnügen."
Amelia gefiel ganz und gar nicht die Art, wie sich sein Lächeln von Ohrläppchen zu Ohrläppchen erstreckte. „Und habe ich auch wirklich allein geschlafen?"
„Ich schlafe nicht mit Frauen, die von meinen Liebeskünsten nichts mitbekommen.
Das beeinträchtigt das Vergnügen."
Sie schnaubte erbost. „Vergnügen? Versuchen Sie doch einmal, ernst zu sein!"
„Mein Kuß gestern abend hat Ihnen eindeutig Vergnügen bereitet, aber mir ist klar, daß Sie noch nicht das Vergnügen hatten, eines Mannes Bett zu teilen. Deshalb kann ich Ihr mangelndes Verständnis dieser Dinge durchaus begreifen. Ich bin mehr als bereit, diesen unglücklichen Zustand zu beenden und Ihnen beizubringen, worauf Sie bisher verzichten mußten."
Das Blut wich aus Amelias Gesicht. „Wenn ich einen Revolver hätte, würde ich Sie dafür erschießen, daß Sie einer Dame gegenüber solche Äußerungen machen. Mr.
Medford, Sie sind ein Scheusal!"
„Aber ehrlich!"
Sie setzte ihren Weg zur Tür fort.
„Wie gedachten Sie denn, nach Hause zu kommen?" fragte er wie beiläufig.
„Notfalls zu Fuß."
Bevor sie ihre Hand auf den Türknopf legen konnte, trat Yancy heran und drehte ihn für sie um. „Das wird nicht nötig sein. Meine Kutsche wartet bereits. Sehen Sie, ich wußte schon vorher, daß Sie nicht verweilen würden. Nach Ihnen, meine Liebe."
Amelia raffte ihren Rock zusammen und stürmte hinaus, immer noch wutschnaubend.
Während der Heimfahrt bewahrte sie eisiges Schweigen. Sie sah den Grund nicht ein, warum Yancy darauf bestehen mußte, sie zu begleiten. Wie hatte Carlton es wagen können, diesen Mann als Gentleman zu bezeichnen!
„Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie Carlton sagen werden?" fragte Yancy.
„Ich . . . mir wird schon etwas einfallen. Mich würde eher interessieren, was Sie dazu veranlaßt hat, mich nicht schon gestern
abend nach Hause zu fahren."
„Sie sind doch diejenige, die sagte, Sie wollten nicht, daß Ihr Bruder uns zusammen sähe. Haben wir uns nicht deshalb in der Maison Riehe getroffen? Und wie hätte es wohl ausgesehen, wenn ich Sie hätte hineintragen müssen?"
Amelia fand seine Belustigung angesichts ihrer so beklagenswerten Lage als äußerst unangebracht. „An meinem guten Ruf ist Ihnen wohl überhaupt nicht gelegen!"
„Um völlig offen zu sein — nein. Aber der gute Ruf der Dame, mit der ich Poker gespielt habe, hat mich schon interessiert."
„Was wollen Sie damit sagen?"
„Ich glaube, daß dies die wahre Amelia Simpson war. Und nicht die, die ich jetzt vor mir sehe. Auf eine gewisse Weise erinnern Sie mich an Ebenezer Scrooge in ,Ein Wintermärchen' von Charles Dickens. Kennen Sie die Geschichte?"
„Nein, und sie interessiert mich auch nicht."
„Bleiben Sie so, wie Sie sind, und Sie werden als unglückliches altes Weib enden.
Lassen Sie sich gehen, Amelia, und Sie entdecken vielleicht eine völlig neue Welt um sich herum."
Amelia war überrascht, wie ernst er plötzlich geworden war. „Ach, das könnte Ihnen so passen! Ausgerechnet Sie kommen mir mit solchen Sprüchen. Sie sind . . ."
„Aber ich gebe nicht vor, ein anderer zu sein, als ich in Wahrheit bin. Sie müssen zugeben, daß ich aus meinen Absichten keinen Hehl gemacht habe. — Halten Sie hier an, Hartford!" rief er dem Kutscher zu.
Amelia verstand nicht, warum er halten ließ. Sie waren noch nicht
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