Historical Weihnachtsband 1993
und mitfühlende Blythe, vertrat an wer weiß wie vielen Kriegswaisen Mutterstelle, war schöner denn je. Gram und Schwierigkeiten hatte ihr Reife verliehen und ihren Reiz noch verstärkt. Sie erschien ihm unwiderstehlicher denn je. Gott im Himmel, er durfte sie nicht verlieren! Und doch war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, in sie zu dringen, nicht, nachdem er so plump in ihr Haus eingedrungen war und ihr geradeheraus ins Gesicht gesagt hatte, er habe an ihrer Liebe und Treue gezweifelt. Sie brauchten beide Abstand, um mit ihren Gefühlen ins reine zu kommen. Aber eines stand für ihn fest: er würde nicht von ihr lassen.
Seth! Wo mochte Seth sein an diesem Weihnachtstag? Rafe hatte seit fast vier Jahren kein einziges Mitglied seiner Familie gesehen.
Gott im Himmel, konnte es soviel Einsamkeit geben? Bis zu dieser Nacht war es ihm kaum bewußt geworden, wie einsam er war, oder vielleicht doch, und er hatte es sich bloß nicht eingestanden?
Die Soldaten hatten ihre Durchsuchung beendet und führten die Pferde an den Brunnentrog zum Tränken, bevor man weiterreiten würde. Rafe warf einen letzten Blick in die Runde. Wie vertraut ihm die Farm war! Nichts schien sich verändert zu haben außer den eingezäunten Koppeln, auf denen sich früher herrliche Pferde tummelten, während Hühner munter im Vorhof des Stalles nach Körner scharrten.
Doch plötzlich fielen Rafe noch einige ungewohnte Dinge auf. Sogar jetzt im fahlen Mondlicht wirkte die Tünche an Scheune und Haus verwaschen und fleckig. Ein Teil des Geländers auf der Veranda hing durch. Er dachte sich, was es Blythe kosten mochte, alles zusammenzuhalten. Ob es ihr paßte oder nicht, er würde Mittel und Wege finden, ihr zu helfen, koste es, was es wolle. Zerstreut führte auch er sein Pferd an den Brunnentrog. War er nicht auch anders geworden? Hatte er nicht früher bei der Scheune gestanden? Rafe erinnerte sich lebhaft, daß es so gewesen war. Er schaute sich aufmerksam um, bemerkte eingetrocknete Flecken auf dem Erdboden im Schneematsch und beugte sich hinunter, um sie mit dem Finger zu berühren.
Blut. Jetzt fiel es Rafe auch wieder ein. Da gab es den Obstkeller hier irgendwo. Sie hatten ihn zu dritt, Seth, er und Blythe, oft genug heimgesucht. Ein Stein fügte sich zum anderen, bis das Bild unbarmherzig klar wurde. Der Gesuchte befand sich gerade unter dem Platze, auf dem Rafe Hampton stand. Er scharrte mit der Stiefelspitze etwas Schlamm und Schnee über die verräterische Blutspur und überlegte fieberhaft, wie er sich nach dieser Entdeckung verhalten sollte. Wenn er seinen Leuten Bericht gab und der Südstaatengeneral hier gefunden wurde, mußte die Somers'sche Farm im Zuge der Vergeltungsmaßnahmen, wie sie hier üblich waren, dem Erdboden gleichgemacht werden.
Plötzlich wurde es Rafe klar, daß er trotz aller Hinweise nicht tatsächlich erwartet hatte, den feindlichen Offizier hier zu finden. Blythe war nie hitzig für die Sache der konföderierten Rebellen eingetreten, und ihre Familie hatte sich immer gegen die Sklaverei ausgesprochen, wie seine eigenen Verwandten auch. So hatten ihr Vater und dann Seth lange gezögert, sich auf die Seite der Südstaaten zu stellen, und als sie es schließlich taten, geschah es wohl mehr
aus Loyalität zu Virginia als aus Gründen der politischen Überzeugung. Außerdem hatte er, Rafe, die Verfolgung des Generals einfach als Vorwand benutzt, um Blythe wiedersehen zu können. So fand er sich in der eigenen Schlinge gefangen. Er konnte diesen Flüchtigen nicht einfach entkommen lassen, nicht, wenn Sheridan überzeugt war, daß die Gefangennahme dieses Mannes den Krieg um Tage, wenn nicht gar um Wochen, verkürzen würde.
Rafe warf einen letzten Blick auf den versetzten Brunnentrog und schritt rasch zum Hause zurück, wo nun Blythe in einem abgetragenen Mantel an der Eingangstür erschienen war und die Leute beobachtete. Der Sergeant trat auf seinen Vorgesetzten zu und schüttelte den Kopf. "Auch nichts, Sir, außer ein paar Hufspuren."
Blythe fiel ihm ins Wort. „Ich habe Ihrem Sergeant schon erklärt, daß Jaime und ich ausgeritten waren, um Fichtenzweige für den Weihnachtsschmuck zu holen."
„Und wo sind die Pferde?"
„Gut versteckt und sicher vor dem Zugriff plündernder Soldaten." Das klang mehr als bitter.
Rafe forschte in Blythes Zügen, und das Herz krampfte sich ihm zusammen. Sie hatte in diesen vier Jahren wohl gelernt, überzeugend zu lügen, wahrscheinlich gezwungen von der
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