Historical Weihnachtsband 2010
auf eine Bank, die vor einer kalten Feuerstelle stand. Sie selbst nahm nicht Platz. Stattdessen schritt sie auf und ab, wobei sie unablässig die schlanken Hände, deren verfärbte Finger von ihrer Arbeit mit Pflanzen zeugten, verschränkte und wieder löste.
William zwang sich, sie nicht immerfort anzusehen, und nahm stattdessen das Zimmer in Augenschein. Ein Kasten in der linken Ecke war mit Papieren und Büchern vollgestopft. An den restlichen Wänden standen Regale aufgereiht, auf denen dicht an dicht kleine und große Tongefäße ruhten. Von den hervorstehenden Deckenbalken hingen Kräuterbündel. Auf dem kleinen Tisch hinter der Bank lagen etliche Mörser und Stößel herum. Er stellte sich vor, wie sie hier arbeitete. Wie sie Kräuter zerrieb, Gänseschmalz oder was sonst noch hinzufügte, um eine Creme für eine reiche Dame wie Lady Chandre herzustellen. Und die sich dann damit einrieb, in der Hoffnung, sich so einen Mann zu angeln.
Gab es einen Mann in Rosemarys Leben? William gefiel es nicht, dass dieser Gedanke bei ihm das Gefühl erweckte, als läge ihm etwas Schweres auf dem Magen. Nein, kein Mann würde seiner Frau erlauben, des Nachts allein durch London zu gehen.
„Ich will ehrlich zu Euch sein.“ Mit einem schmerzlichen Ausdruck auf dem Gesicht blieb Rosemary neben der Bank stehen. Trotz der Schatten unter den Augen und dem qualvoll verzogenen Mund sah sie schön und jung aus. Sicher nicht älter als zwanzig, schätzte er. „Unsere Lage ist ziemlich verzweifelt. Wenn ich diese Gewürze nicht bekomme, können wir unsere spezielle Creme nicht mehr herstellen und werden wahrscheinlich unsere Apotheke verlieren.“
Wir . Dieses Mal wurde William die Brust eng. Er konnte nicht anders. Hastig stand er auf und griff nach einer ihrer verkrampften Hände. Wie kalt und klein sie war. „Und wo war Euer Gatte, während Ihr Euch in Gefahr begeben habt, um Euer Geschäft zu retten?“
„Ich habe keinen Gatten. Ich lebe hier mit meinem Onkel Percy.“
Sie war nicht verheiratet . Die Nachricht war willkommen und verwünscht zugleich. Und sie versetzte sein Gemüt in Aufruhr – wie auch andere, weniger scharfsinnige Teile seines Körpers. Es ist nur ein lustvolles Verlangen, sagte sich William. Und nur allzu verständlich, wenn man bedachte, wie enthaltsam er dieses Jahr gelebt hatte. Als Ella noch lebte, war er gelegentlich zu den Hübschlerinnen gegangen, um seine Leidenschaft zu stillen. Denn mit ihr durfte er sie nicht stillen, solange sie noch nicht verheiratet waren. Nach Ellas Tod erschien es ihm nicht richtig, sich an irgendetwas zu erfreuen. Ja, das musste der Grund für die Heftigkeit sein, mit der er nach der Apothekerin verlangte.
Trotzdem gefiel ihm dieser Zustand nicht im Geringsten. Er wollte niemanden mehr begehren. „Nun, Euer Onkel sollte sich mehr um Eure Sicherheit kümmern.“ William war im Begriff, ihre Hand wieder loszulassen, als die Tür aufflog.
Eine untersetzte, alte Frau stürzte herein. Die Kleidung zerknittert und in Unordnung schwang sie ein Nudelholz in der hoch erhobenen Hand. „Weg von ihr! Zurück, du Schuft.“
„Winnie!“ Rosemary stellte sich ihr in den Weg. „Es ist alles in Ordnung. Lord William war nur …“
„Er hat dich angefasst!“
„Nun gut, ja.“ Rosemary warf einen Blick zu ihm herüber. Um ihren Mund zuckte ein amüsiertes Lächeln. „Es gab ein Missverständnis. Mehrere Missverständnisse. Winnie ist unsere Haushälterin“, fügte sie hinzu, als ob diese Tatsache das unbesonnene Eindringen erklären könnte. Mit einem strahlenden Lächeln drehte sie sich dann wieder zu der Frau um. „Lord William importiert Gewürze, musst du wissen.“
Winnie rümpfte misstrauisch die Nase und musterte ihn mit einem Blick, mit dem sie eine Maus betrachten mochte, die es wagte, in ihre Küche einzudringen. „Und wenn er der König wäre, ist mir doch egal! Er hat kein Recht, mit dir hier allein zu sein und dich anzufassen.“
„Da kann ich Euch nur zustimmen“, erwiderte William steif und ging zur Tür. „Ich bin nur gekommen, weil …“ Er beendete den Satz nicht, denn ihm wurde klar, dass er nur gekommen war, weil er sie sehen musste. „Als ich Euch heute Abend traf, saht Ihr aus, als hättet Ihr Angst vor etwas. Ich wollte Euch nur beruhigen.“ Sein Blick schweifte zur der finster blickenden Haushälterin. „Wegen unseres Zusammentreffens in der vergangenen Woche werde ich nichts unternehmen.“
Er würde sie nicht ins Gefängnis werfen
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