Hitzetod
taxieren begann, was vertraut und was fremd war.
Es war ein kleiner Raum. Ein Sofa, ein Waschbecken mit einer Kochplatte daneben. Ein ehemals weißer, inzwischen aber durch Fettschmiere und Gebrauch vergilbter elektrischer Wasserkocher. Auf einem braunen Schränkchen ein Fernseher und ein DVD-Player. Ein paar DVDs auf dem Regal darunter. Er ging die Titel durch: Lutschmädchen , Sündige Schwestern , Verbrechen und Bestrafung , Flammende Mösen . Kinohits waren das nicht gewesen. Ein paar Schränke. Auf dem Fußboden ein ausgeblichenes Perser-Imitat auf einem hellbeigefarbenen Teppichboden. Ein Telefon und ein Terminkalender. Ein Korb mit ein paar Äpfeln und einem dicken Gummiring darin, ein paar Zeitschriften. Es war sauber, aufgeräumt. Nichts in Unordnung. Nichts, was nicht hierhergehörte.
Außer dem Geruch.
Delaney schaute zu der anderen Tür hinüber; er wusste, was dahinter war. Auch wenn es ihm niemand gesagt hätte, hätte er es gewusst. Der Geruch war unverkennbar. Tod.
Der Tod war wie feiner Staub: Er legte sich auf ihn, belagerte seine Nasenlöcher, drang in seine Lunge ein. Das Leben mochte rasch aus ihr gewichen sein, doch ihr Körper gab sein Wesen erst ganz allmählich her, und während Delaney in ihrem Wohnzimmer stand und Jackie Malone in sein Innerstes einatmete, spürte er, wie er ruhig wurde. Ersatzhandlung nannte man das. Er vermochte die Tote nicht wieder zum Leben zu erwecken, aber was in seiner Macht stand, konnte er tun: die Verantwortlichen finden und dafür büßen lassen.
»Chef.« Das riss ihn aus seinen Gedanken.
Delaney nickte dem korpulenten Polizisten an der Tür zu und ging hinüber zum Schlafzimmer. Jackie Malones Büro, ihre Fabrikhalle, ihr Operationssaal.
Er blickte sich rasch um. Eine mittelalterliche Folterkammer in Schwarz und Rot, mit Satinlaken und einem Champagnerkühler. Schmerz und Lust. Qual und Ekstase. Beamte der Spurensicherung, SOCO oder wie immer man sie heutzutage nannte – Delaney kam mit den sich ständig verändernden Abkürzungen der Londoner Polizei nicht mehr mit –, die in ihren weißen Plastikanzügen wie notleidende Astronauten aussahen, waren mit Einstäuben und Fotografieren beschäftigt. Einer von ihnen gab ihm ein Paar dünne blaue Latexhandschuhe, die er mit einer Grimasse überstreifte. Für Untersuchungen völlig anderer Art hatte Jackie Malone immer eine Schachtel davon auf einem Schrank neben der Tür stehen. Der Polizist trat beiseite, und Delaney richtete den Blick auf den Boden, wo er zum ersten Mal die Leiche erblickte, das Gesicht nach oben, die Arme grausam gefesselt, wie eine kaputte, weggeworfene Puppe.
Leiche: so ein kaltes Wort für eine so heißblütige Frau. Allerdings war ihr Blut jetzt nicht mehr heiß. Es war kalt und geronnen, in braunen Streifen in ihr elfenbeinernes Gesicht gekratzt und in Lachen über ihren verstümmelten Körper verspritzt.
Delaney schluckte, als der bittere Whiskygeschmack ihm hochkam. Als er sich zurückerinnerte.
Irin, klar. Was sonst, mit diesen dicken schwarzen Locken und hellblauen Augen. Eine entfernte Nachfahrin eines glücklichen Matrosen, der von einem Wrack der Armada auf die regendurchtränkten Felder Südirlands gespült worden, dann nach Cork oder Waterford hineingetaumelt war und sich vor dem tosenden Unwetter in die offenen Arme eines irischen Mädchens geflüchtet hatte. Liebe war schließlich eine universelle Sprache. Genau wie Lust, die Ware, mit der Jackie Malone gehandelt hatte. Oder Einsamkeit. Sie hatte es tatsächlich immer verstanden, Delaney zum Lachen zu bringen, ja, ihn sich selbst vergessen zu lassen. Jetzt betrachtete er ihre Augen. Leblos, flach, und er hatte sie zwinkernd in Erinnerung, zornig funkelnd, voller Leben, genau wie sie selbst. Zweiunddreißig Jahre alt. Seit mehreren Stunden tot.
Er ließ den Blick über ihren übel zugerichteten Körper wandern.
Nackt. Hände und Füße mit Bügeldraht gefesselt. Der Körper mit Messerschnitten übersät. Mit Stichwunden. Ihr süßes Gesicht von der Stirn bis zum Kinn aufgeschlitzt. Ein Lächeln wie aus einem Gemälde von Bosch in die Kehle geschnitzt, eine klaffende Wunde mit schwarzem Saum. Delaney schluckte erneut und richtete den Blick auf Bonner, der gerade den Raum betrat.
»Alles in Ordnung, Chef?«
»Ja«, log Delaney. Im Lügen war er gut. Er wandte sich Sally Cartwright zu, der jungen Polizistin, die ihm hineingefolgt war. Ihr Gesicht war beinahe so bleich wie der Leichnam auf dem Boden. Sie konzentrierte
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