Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Augen liegt, während sie noch immer die Einkaufstüten anstarrt. Drei, vier Jahre wird sie sich noch einreden, es sei besser für die Kinder, wenn sie ihre Ehe aufrechterhält. Dann ein, zwei weitere Jahre, in denen sie sich Rat holt und Vorbereitungen trifft, um bei der Scheidung, die ihr Unterbewusstsein längst beschlossen hat, nicht vollends über den Tisch gezogen zu werden. In dieser Zeit wird ihr Mann bereits das erste Kind mit ihrer Nachfolgerin zeugen. Er gehört nicht zu der Sorte, die bereit ist, B zu sagen, nur weil er irgendwann einmal A gesagt hat, und deshalb wird die Sache vergleichsweise unangenehm für sie werden. Um den Jungen im Buggy wird ihr Ex mit allen Mitteln kämpfen, seine Tochter hingegen bereitwillig abschreiben, weil ihm ihre Intelligenz und ihr Durchblick entschieden zu unbequem sind. Seine Frau hingegen wird alles
daransetzen, die vermeintliche Benachteiligung auszugleichen, und ihren Sohn hintanstellen, wo immer sie kann. Dieser wird sich in der Folge mehr und mehr seinem Vater zuwenden, weil der ihn an den Wochenenden mit auf die Cartbahn oder in den Kletterpark nimmt und gewissenhaft auch noch die harmloseste Erziehungsregel seiner Ex aufdeckt und untergräbt.
Der Junge soll kein Fast Food essen?
Prima, dann gehen wir zu McDonald’s!
Um acht ins Bett?
Fein, also darf der Kleine bei Papa bis Mitternacht Boxen gucken, Klitschko gegen irgendwen. Hauptsache, laut und blutig.
Dabei lernt er dann auch gleich etwas lieben, was seine Mutter schon immer als vollkommen sinn- und hirnlose Gewaltorgie empfunden hat. Und damit Mama sich auch so richtig freut, gibt’s zum nächsten Christfest ein Paar Kinderboxhandschuhe samt Gutschein für ein Jahr Unterweisung beim Spitzentrainer, was Mama selbstredend nie erlauben wird, womit sie dann, oh Wunder, wieder mal die sprichwörtliche Arschkarte gezogen hätte. Denn das mit dem Boxtraining wird Sohnemann ihr nach all den anderen Zurückstellungen nie verzeihen. Er wird sich sechs, sieben Jahre lang ärgern und dann mit sechzehn in einen angesagten Street Fighting Club eintreten, wo man ihm so lange die Fresse poliert, bis er in der Schule auch wirklich nichts mehr auf die Reihe bringt, obwohl er eigentlich ziemlich helle ist. Damians Augen lösten sich von den verschmierten Händen des Jungen. Das Ergebnis würde sein, dass sich jeder Einzelne von ihnen bestätigt sah, so falsch sie in Wahrheit auch lagen.
»Verzeihung, aber das sollten Sie wirklich nicht tun«, fauchte im selben Augenblick die Deutschlehrerin schräg vor ihm. »Hier stehen immerhin auch Kinder. Und die meinen dann, dass sie das auch dürfen.«
Das tätowierte Mädchen wendet den Kopf. »Ey, ich hab’s eilig, okay?«
»Das spielt keine Rolle.« Frau Oberlehrerin bis zur Zehe. »Sie leben nämlich leider nicht allein auf diesem Planeten und …«
Die Schwarzhaarige hebt den Mittelfinger, ohne sich noch einmal umzudrehen, und bringt ihre Angreiferin mit dieser Geste von einem Moment auf den anderen zum Schweigen. Trotzdem kann Damian selbst auf die Entfernung sehen, dass sie Stress hat. Sie ist nämlich längst nicht so abgebrüht, wie sie die Welt glauben machen will. Davon zeugt schon allein die Neurodermitis, die er durch die Armlöcher ihres T-Shirts sieht.
»Passen Sie bloß auf!«, legt die Lehrerin nach ein paar Schrecksekunden nun doch noch nach, und dabei blickt sie sich so beifallheischend um, dass einem glatt das Kotzen kommen könnte. Aber nicht einmal von der jungen Mutter mit dem Kinderwagen erhält sie irgendeine Unterstützung.
Das wiederum nimmt Frau Oberlehrerin persönlich: Der Blick, den sie der armen Frau zuwirft, könnte Panzerglas zerschneiden. Schließlich hat sie sich nicht zuletzt für deren Scheißgören so ins Zeug gelegt. Aber so sind sie, die modernen Zeiten. Wenn du ein Gutmensch bist, kriegst du am Ende doch nur einen Tritt in den Arsch …
Zwei Jungen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn, sehen sich an und beginnen zu kichern, weil sich die Luft um sie herum mit einem Mal so aufgeladen anfühlt.
Die Lehrerin stößt ein verächtliches Schnauben aus und wühlt in ihrem Handsack (als Tasche ist das Ding wirklich nicht mehr zu bezeichnen!), als ein elektrischer Impuls sie und alle anderen erlöst und die Ampel auf Grün springen lässt.
Die Menge setzt sich in Bewegung.
Alles erwacht aus seiner Lethargie.
Der Strom der Wartenden geriet wieder in Fluss, und während er sich im Windschatten der Lehrerin unauffällig
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