HMJ06 - Das Ritual
nicht.«
»Um was dann?«
»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …«
Der Reverend gab einen Seufzer von sich. Charlie spürte seine Ungeduld.
»Na schön«, begann er. »Es geht um Folgendes … Ist es erlaubt, dass wir an Geister glauben?«
»Ob es erlaubt ist?«
»Ich meine, gibt es irgendwelche Gebote oder Regeln im Zusammenhang damit?«
Der Reverend lehnte sich zurück und fixierte ihn durch die dicken Gläser seiner randlosen Brille. »Warum möchtest du das wissen?«
»Jetzt kommt der schwierige Teil.« Charlie holte tief Luft. »Unser Haus ist verflucht.«
Der Reverend sah ihn weiterhin prüfend an. »Wie kommst du darauf?«
Charlie schilderte ihm in knappen Worten die letzten Ereignisse im Haus.
»Was ich wissen möchte«, schloss er seinen Bericht, »ist, was ich jetzt tun soll.«
»Geh weg von dort«, antwortete der Reverend, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Und zwar auf der Stelle. Dein Bruder war für dich schon längst ein Grund fortzugehen, aber jetzt musst du zusehen, dass du flüchtest. Geh nicht weg, sondern renn, so schnell du kannst, aus diesem Haus.«
Charlie hatte nicht vor, diesen Rat zu befolgen, aber er war froh, dass der Reverend ihn nicht behandelte, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Also … glauben Sie mir.«
»Natürlich glaube ich dir. Und nach dem, was du mir über deinen Bruder erzählt hast, ist das Ganze offensichtlich seine Schuld. Er hat diesen Dämon herbeigerufen.«
»Es ist kein Dämon, Rev. Eher ein Geist, ein Gespenst. Sie sagt, sie heiße Tara Portman und …«
Der Reverend schüttelte langsam seinen Charakterkopf. »So etwas wie Gespenster gibt es nicht, Charles. Nur Dämonen, die so tun, als wären sie Gespenster.«
»Aber …«
»Die Toten kommen nicht zurück, um den Lebenden einen Besuch abzustatten. Denk doch mal nach: Die, die glauben, sind bei Jesus, und wenn du dem Herrn nahe bist, dann brauchst du nichts sonst. Du vermisst die Lebenden, die du zurückgelassen hast, nicht, ganz gleich, wie sehr du sie zu Lebzeiten geliebt hast. Denn du bist eingebettet in die Liebe Gottes und befindest dich in der heiligen Gegenwart unseres Herrn Jesus Christus. Denk mal an den Brief an die Korinther: ›Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.‹ Diese Gegenwart zu verlassen, wäre … nun, es wäre absolut unvorstellbar.«
Charlie nickte. Das sah er ein. »Na schön. Was wäre denn mit denen, die nicht zu den Gläubigen gehören?«
»Die schmoren in der Hölle, Charles. Oh, die Verdammten würden liebend gern zurückkehren, jeder von ihnen. Sie würden alles dafür geben zurückzukommen, und wenn es auch nur für eine Sekunde wäre, den Bruchteil einer Sekunde. Aber sosehr sie es sich auch wünschen, sie können es nicht. Sie dürfen es nicht. Sie bleiben für alle Ewigkeit in der Hölle und müssen jede Sekunde die furchtbarsten Qualen erleiden. ›Der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht.‹«
»Was ist dann …?«
»Ein Dämon, Charles.« Der Reverend nickte ernst. »Du erkennst doch die einfache Logik, nicht wahr? Ein Engel würde die Lebenden niemals belügen, indem er vorgibt, eine tote Person zu sein, die zurückgekehrt ist. Nur ein Dämon wäre einer solchen teuflischen Lüge fähig.«
»Aber warum?«
»Um die Gläubigen vom Herrn wegzulocken und sie zur ewigen Verdammnis zu führen. Dein Bruder hat den Dämon angelockt, aber du bist es, hinter dem er her ist, Charles.« Er richtete seinen Finger auf Charlie. »Du bist es! Er giert nach deiner zerbrechlichen Seele, damit er sie seinem bösen Meister auf einem Silbertablett servieren kann!«
Das Ziel des übernatürlichen Bösen … nicht ich, dachte Charles, während ihn der nackte Terror zu verschlingen drohte. Bitte, Herr, nicht ich.
Charlie zuckte zusammen, als der Reverend mit der Hand auf den Tisch schlug. »Willst du nicht endlich deinen bösen Bruder verlassen?«
»Er ist …« Charlie brach mitten im Satz ab.
Die Augen des Reverends verengten sich. »Er ist was? Willst du mir wieder erzählen, er sei nicht böse – nachdem er einen Dämon heraufbeschworen hat?«
Er hatte genau das sagen wollen. Und Lyle hatte keinen Dämon beschworen. Zumindest nicht absichtlich. Er war nicht böse, nur ein wenig neben der Spur. Er hatte das Licht noch nicht gesehen. Aber Charlie wusste, dass
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