Höchstgebot
doch die Kirche zuständig, nicht die Polizei?«
»Ich rede nicht von Moral, Frau Roeder, sondern von Straftatbeständen. Ihr Bruder wurde ermordet.«
»Was?« Ingrids Gesicht verzerrte sich.
»Sie haben schon verstanden. Haben Sie ihn an Herrn Debriek verraten?«
»An Debriek? Ich verstehe nicht.«
Jetzt pokern! Primzahl! , chattete Micky Katja zu.
»Haben Sie Debriek gesagt, dass Ihr Bruder die fehlende Primzahl besitzt?«
Ingrid schaute sie verständnislos an.
»Das war doch eine fantastische Gelegenheit, Ihren Bruder nicht nur aus der Firma zu jagen, sondern gleich ganz loszuwerden.«
»Ich muss hier raus! Diese Frau ist ja verrückt!« Ingrid sprang auf. Der Anwalt hob hilflos die Hand, um sie zu beruhigen.
Micky hatte eine der Kameras auf Ingrids Gesicht gezoomt. Panik und Angst. Die Tasche! , tippte sie.
»Hinsetzen! Sofort!«, rief Katja scharf.
Ingrid Roeder sank langsam auf ihren Stuhl zurück. Währenddessen beugte sich Katja zur Seite, zog etwas aus der Tasche und legte es vor Ingrid auf den Tisch.
»Ist das Ihr Werk?«, fragte sie und wies auf den Plastikbeutel mit Carstens Hand.
Ingrid schlug die Hände vor den Mund und schüttelte den Kopf.
»Das ist doch das Meisterstück, das Sie extra für Ihren Bruder entwickelt haben?«
Ingrid starrte auf die Prothese mit dem zerfetzten Stumpf. Sie war jetzt kalkweiß im Gesicht, ein Schluchzer drang aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele empor. »Mein Gott, Carsten.«
»Ich verlange, dass Sie die Einvernahme sofort unterbrechen und einen Arzt rufen«, forderte der Anwalt.
Mickys Finger flogen über die Tastatur. Nichts sagen, abwarten! Vielleicht war diese Konfrontation zu hart gewesen, dachte sie, aber immerhin war nun ziemlich klar, dass Ingrid mit dem Mord an Carsten nichts zu tun hatte. Schon ihre Bestürzung, als sie erfuhr, dass er keinen Selbstmord begangen hatte, war nicht gespielt gewesen.
»Frau Hellriegel, haben Sie gehört, was ich sagte? Meine Mandantin ist nicht mehr vernehmungsfähig!« Der Anwalt verschärfte seinen Ton.
»Seien Sie still«, fuhr Ingrid ihn plötzlich an. Sie hatte ihre Hände auf den Oberschenkeln abgelegt und den Rücken so durchgedrückt, dass sie wie in einem Stützkorsett dasaß. »Sie wollen wissen, wer meinen Bruder auf dem Gewissen hat? Das Flittchen war es. Ich wollte nur, dass unser Unternehmen zukunftsfähig bleibt. Und dass Carsten endlich einsieht, dass er meine Hilfe braucht, dass er mich braucht. Aber sein Tod«, sie rang einige Sekunden um Fassung, »ich war niemals ohne ihn.«
»Wen meinen Sie mit ›Flittchen‹?«, fragte Katja.
Micky musste unwillkürlich an die Abende ihrer Kindheit denken, an denen sie mit ihren Eltern im niederländischen Fernsehen Derrick gesehen hatte. Sie war überrascht, dass es dieses Schimpfwort der höheren Gesellschaft immer noch gab.
»Sybille natürlich. Ohne ihren schäbigen Verrat wäre das alles nicht passiert.«
»Wen hat sie verraten? Sie?«
»Mich, Carsten, uns alle.«
»Sie hat für Carsten bei Ihnen spioniert, das wissen wir bereits. Musste Carsten deshalb sterben? Weil er so von dem Verkauf an Limbs erfahren hatte?«
»Unsinn! Er wusste nur, dass wir den militärischen Nutzen unserer Technologien erforscht haben. Vom Verkauf hatte sie ihm gar nichts erzählt. Inzwischen weiß ich natürlich, warum. Er hätte sofort die Versteigerung gestoppt und damit hätte sie ihren eigenen Plan zerstört, das Gemälde von diesen Versagern rauben zu lassen.«
»Wie haben Sie herausgefunden, dass Sybille für Carsten spioniert hat?«
»Er hat es mir selbst gesagt, dieser ahnungslose Gutmensch. Ein paar Tage vor der Versteigerung beschwor er mich, meine Testreihen zu stoppen. Ich habe alles bestritten. Bis er zugab, seine Informationen von Sybille zu haben, und versprach, die ganze Sache zu vergessen, sofern ich nur damit aufhörte und alle Daten vernichtete.«
»Von ihm stammte die Idee, den Brand zu legen?«, fragte Katja.
»Ich sagte doch, er wusste nichts von dem Verkauf. Und den Brand hatte ich auch schon längst geplant, als er anrief. Carsten hatte endlich erkannt, was für ein Mensch Sybille war, und sich von ihr getrennt. Aber er fürchtete, dass sie nun mit ihrem Wissen an die Presse ging. Ein Treppenwitz – jahrelang weigert er sich, lukrativste Militäraufträge anzunehmen, und sie könnte ihn plötzlich als Lügner und Kriegsgewinnler dastehen lassen. Ich habe meine Entwicklungsarbeit für Limbs doch nicht geheim gehalten, damit sie ihn dann
Weitere Kostenlose Bücher