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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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seinen Teller zur Seite.
    Erwartungsvoll sah er mich an. Ich holte tief Luft, lächelte ihn an und spürte dann zu meinem Leidwesen, daß mir heiße Tränen über die Wangen liefen. Greg reichte mir eine Schachtel Kleenex und wartete.
    »Sie müssen mich für verrückt halten«, sagte ich, nachdem ich mir die Nase geputzt hatte. »Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen, das alles besser zu verstehen?«
    »Was zu verstehen?«
    »Adam, wie Sie sich denken können.«
    Er stand abrupt auf.
    »Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen.«
    »Ich habe meinen Mantel nicht dabei, er ist im Büro.«
    »Ich werde Ihnen eine Jacke leihen.«
    Wir gingen zunächst ein kleines Stück an der vielbefahrenen Straße nach Shoreditch und zur Themse entlang. Dann führte mich Greg plötzlich ein paar Stufen zu einem Kanal hinunter. Der Verkehr blieb hinter uns zurück, und es war ruhig wie auf dem Land. Zuerst empfand ich das als sehr angenehm, aber dann mußte ich an Tara denken. Ob ihre Leiche wohl in diesem Kanal gefunden worden war? Ich wußte es nicht. Greg ging genauso schnell wie Adam, aber nach ein paar Schritten blieb er stehen und musterte mich.
    »Warum fragen Sie das ausgerechnet mich?«
    »Es ist alles so schnell gegangen«, sagte ich. »Das mit mir und Adam, meine ich. Erst war ich der Meinung, daß die Vergangenheit keine Rolle spielt, daß nichts eine Rolle spielt. Aber so läuft das nicht.« Diesmal war ich diejenige, die stehenblieb. Ich konnte mit Greg nicht über all meine Ängste sprechen. Er war der Mann, dessen Leben Adam gerettet hatte. Er war auf irgendeine Weise mit Adam befreundet. Ich starrte auf das reglose Wasser. Kanäle fließen nicht so schnell wie Flüsse. Ich hätte so gern über Adele, Françoise oder Tara gesprochen. Statt dessen fragte ich: »Macht es Ihnen nichts aus, daß alle ihn für den Helden halten und Sie für den Bösewicht?«
    »Den Bösewicht?« wiederholte er. »Ich dachte, ich wär’
    bloß der Feigling, der Schwächling, der Elisha Cook junior.«
    »Wer?«
    »Er war ein Schauspieler, der immer Feiglinge und Schwächlinge spielte.«
    »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht …«
    »Es macht mir nichts aus, wenn die Leute sein Verhalten heldenhaft finden, denn das war es auch. Es war einfach außergewöhnlich, wieviel Mut, Stärke und Gelassenheit er an jenem Tag bewiesen hat.« Er sah mich von der Seite an. »Ist es das, was Sie hören wollen? Und was den Rest betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob ich ausgerechnet mit Ihnen über mein Versagen reden will. Mit der Frau des Helden.«
    »So ist das nicht, Greg.«

    »Ich glaube schon, daß das so ist. Deswegen haben Sie mich heute auch noch im Schlafanzug und völlig verkatert vorgefunden. Was mich am meisten quält, ist die Tatsache, daß ich es nicht verstehe. Was sagt denn Adam darüber?«
    Ich holte tief Luft.
    »Ich glaube, Adam ist der Meinung, daß bei der Expedition mehrere Leute mit von der Partie waren, die einfach nicht auf den Chungawat gehörten.«
    Greg stieß ein Lachen aus, das sofort in einen Hustenanfall überging.
    »Das können Sie laut sagen«, meinte er, als er sich wieder gefangen hatte. »Carrie Frank, die Schönheitschirurgin, beispielsweise. Sie war sehr fit, was das Wandern betraf, hatte aber noch nie in ihrem Leben einen Gipfel bestiegen. Sie wußte nicht mal, wie man mit Steigeisen umgeht. Und ich kann mich noch erinnern, daß ich Tommy Benn darauf aufmerksam machen mußte, daß er sich falsch gesichert hatte. Wenn er es so gelassen hätte, wäre er zwangsläufig abgestürzt. Als er auf mein Zurufen überhaupt nicht reagierte, fiel mir wieder ein, daß er kein Englisch sprach. Kein einziges Wort. Mein Gott, was hatte der Mann bloß bei dieser Expedition zu suchen? Ich mußte zu ihm hinunterrutschen und seinen Karabiner richtig befestigen. Aber ich war trotzdem der Meinung, ein narrensicheres System entwickelt zu haben. Dann versagte dieses System, und fünf Menschen, die sich in meine Obhut begeben hatten, waren verloren.« Ich legte meine Hand auf seinen Arm, aber er sprach weiter. »Als es darauf ankam, war Adam der Held und ich der Versager.
    Sie sagen, Sie verstehen ein paar Dinge in Ihrem Leben nicht. Willkommen im Klub!«
    »Aber das macht mir angst.«

    »Willkommen im Klub, Alice«, wiederholte er mit einem halben Lachen.
    Auf der anderen Seite des Kanals entdeckte ich zu meiner Überraschung einen kleinen Garten mit mehreren Reihen roter und violetter Tulpen.
    »Ist es irgend etwas

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