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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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geschrieben und bei beiden angefragt hatte, ob sie sie besuchen dürfe, um mit ihnen über den Tod ihres Mannes zu sprechen. Nun saß sie in ihrem schicken und zugleich praktischen Kostüm an unserem Küchentisch, umklammerte eine Tasse Tee, von dem sie nichts trank, und starrte mich hilflos an, als könnte ich ihr irgendeine Antwort geben. Dabei sprach sie wie ihr Mann Tomas fast kein Englisch und ich kein Wort Deutsch.
    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Das mit Ihrem Mann. Es tut mir wirklich leid.«
    Sie nickte. Dann begann sie zu weinen. Die Tränen strömten ihr über die Wangen, aber sie wischte sie nicht weg. Ihre stumme Trauer hatte etwas Beeindruckendes.
    Ich reichte ihr ein Kleenex, das sie in der Hand hielt, als wüßte sie nicht, was sie damit anfangen sollte.
    »Warum?« sagte sie schließlich. »Warum? Tomas hat gesagt …« Sie suchte vergeblich nach dem nächsten Wort.
    »Es tut mir leid«, sagte ich ganz langsam. »Adam ist nicht da.«
    Das schien ihr gar nicht soviel auszumachen. Sie nahm eine Zigarette aus ihrer Handtasche, und ich brachte ihr als Aschenbecher eine Untertasse. Sie rauchte, weinte und redete, teils in gebrochenem Englisch, teils auf deutsch.
    Ich saß bloß da, starrte in ihre großen, traurigen braunen Augen und zuckte hin und wieder mit den Schultern oder nickte. Dann versiegte ihr Redestrom langsam, und wir sahen uns ein paar Augenblicke schweigend an. War sie schon bei Greg gewesen? Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich die beiden gegenübersaßen, und hatte kein gutes Gefühl dabei. Das Guy -Magazin lag noch immer aufgeschlagen auf dem Tisch. Als Ingrids Blick auf die Zeitschrift fiel, nahm sie sie zur Hand. Sie betrachtete das Gruppenfoto der Expedition und berührte das Gesicht ihres toten Mannes. Als sie den Blick hob, umspielte der Hauch eines Lächelns ihre Lippen.
    »Tomas«, sagte sie so leise, daß ich sie fast nicht verstand.
    Sie blätterte um und betrachtete die Skizze, die die Anordnung der verschiedenen Führungsseile zeigte. Sie deutete mit dem Finger darauf.
    »Tommy hat gesagt gut. Kein Problem.«
    Dann wechselte sie wieder ins Deutsche, und ich verstand nichts mehr, bis ich plötzlich ein vertrautes Wort hörte, das sie mehrmals wiederholte.
    »Ja«, sagte ich. »Help!« Ingrid sah mich verwirrt an. Ich seufzte. »Help«, sagte ich langsam. »Tomas’ letzte Worte.
    Er hat auf englisch um Hilfe gerufen. Help.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein, nein«, widersprach sie beharrlich. » Gelb. «
    »Help.«
    »Nein, nein. Gelb. « Sie deutete auf die Zeitschrift.
    »Sehen Sie: Rot. Blau. Und gelb. «
    Ich starrte sie ratlos an.
    »Rot heißt auf englisch red, oder? Und blau ist …«
    »Blue.«
    »Und gelb …«
    Sie sah sich suchend in der Wohnung um und deutete dann auf ein Sofakissen.
    »Yellow«, sagte ich.
    »Ja. Yellow .«
    Ich mußte über unseren Sprachenwirrwarr lachen, und Ingrid lächelte ebenfalls, wenn auch sehr traurig. Plötzlich war mir, als hätte sich in meinem Gehirn ein Rädchen gedreht. Die letzte Zahl eines Nummernschlosses rastete ein. Die Türen sprangen auf. Yellow. Gelb. Ja, natürlich.
    Tomas Benn hatte bestimmt kein englisches Wort gerufen, als er im Sterben lag. Natürlich nicht. Nicht der Mann, der die ganze Expedition behindert hatte, weil er kein Wort Englisch sprach. Sein letztes Wort war der Name einer Farbe gewesen. Warum? Was hatte er damit zu sagen versucht? Draußen regnete es noch immer in Strömen.
    Dann mußte ich erneut lächeln. Wie hatte ich nur so blöd sein können?
    »Bitte?« Sie starrte mich an.
    »Mrs. Benn«, sagte ich. »Ingrid. Es tut mir so leid.«
    »Ja.«
    »Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen.«
    »Gehen?«
    »Ja.«
    »Aber …«
    »Adam kann Ihnen nicht helfen.«
    »Aber …«
    »Fahren Sie nach Hause zu Ihren Kindern.« Ich wußte gar nicht, ob sie welche hatte, aber für mich sah sie aus wie eine Mutter.
    Gehorsam stand sie auf und griff nach ihrem Regenmantel.
    »Es tut mir so leid«, sagte ich noch einmal. Dann drückte ich ihr den Schirm in die Hand, und sie verließ das Haus.

    Greg war schon betrunken, als wir kamen. Er umarmte mich ein bißchen zu heftig und schloß dann auch Adam in die Arme. Es waren dieselben Leute wie immer: Daniel, Deborah, Klaus, andere Bergsteiger. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, daß sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Soldaten auf Heimaturlaub hatten, die sich an ausgewählten Orten trafen, weil sie wußten, daß kein Zivilist jemals verstehen würde, was sie

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