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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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durchgemacht hatten. Ihr jetziges Leben war für sie nur eine Übergangsphase, die sie an einem Übergangsort verbrachten, bis sie endlich in ihr wahres, von Gefahren und Extremsituationen geprägtes Leben zurückkehren konnten. Nicht zum erstenmal fragte ich mich, was sie wohl von mir hielten. War ich in ihren Augen nur eine Torheit von Adam – eine jener verrückten Affären, in die sich während des Zweiten Weltkriegs so viele Soldaten stürzten, wenn sie ein Wochenende freihatten?
    Die Atmosphäre war recht fröhlich. Adam kam mir ein wenig zerstreut vor, aber das lag wahrscheinlich nur an meiner damaligen Übersensibilität. Bald hatte ihn jemand in ein Gespräch verwickelt. Eines aber stand außer Frage: Greg sah schrecklich aus. Er wanderte von Gruppe zu Gruppe, sagte aber kaum ein Wort. Sein Glas war immer voll. Nach einer Weile stand er plötzlich neben mir.
    »Ich fühle mich ein bißchen fehl am Platz«, erklärte ich verlegen.
    »Ich auch«, antwortete Greg. »Kommen Sie. Es hat zu regnen aufgehört. Ich zeige Ihnen Phils und Marjories Garten.«
    Die Party fand im Haus eines alten Freundes statt, der nach dem College mit dem Bergsteigen aufgehört hatte und in die Stadt gezogen war. Während seine Freunde noch immer Nomaden waren, die durch die ganze Welt zogen und ständig nach Sponsoren für neue Expeditionen Ausschau hielten, gehörte Phil inzwischen dieses schöne große Haus in der Nähe von Ladbroke Grove. Wir traten in den Garten hinaus. Obwohl das Gras feucht war und ich sofort nasse, kalte Füße bekam, tat es gut, an der frischen Luft zu sein. Wir spazierten auf die niedrige Mauer am anderen Ende des Gartens zu und spähten zu dem Haus auf der anderen Seite hinüber. Ich drehte mich um. Durch ein Fenster im ersten Stock sah ich Adam bei einer Gruppe von Leuten stehen. Ein- oder zweimal warf er einen Blick zu uns herunter. Als Greg und ich ihm zuprosteten, hob auch er sein Glas.
    »Ich mag den Frühling«, sagte ich. »Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, daß es heute abend ein bißchen länger hell sein wird als gestern und morgen noch ein bißchen länger als heute.«
    »Wenn Adam nicht am Fenster stehen und uns beobachten würde, dann hätte ich jetzt den Wunsch, dich zu küssen, Alice«, sagte Greg. »Ich meine, ich habe sowieso den Wunsch, dich zu küssen, aber wenn Adam nicht hersehen würde, dann würde ich dich küssen.«
    »Wenn das so ist, dann bin ich froh, daß er dort am Fenster steht, Greg«, sagte ich. »Sieh her.« Ich wedelte mit meiner Hand vor seinem Gesicht herum, so daß er meinen Ehering sehen konnte. »Vertrauen, ewige Treue, all diese Dinge.«
    »Entschuldige. Das weiß ich natürlich.« Gregs Miene wirkte wieder düster. »Kennst du die Titanic?«
    »Ich habe von ihr gehört«, antwortete ich mit einem schwachen Lächeln. Mir war bewußt, daß ich es mit einem sehr betrunkenen Greg zu tun hatte.
    »Hast du gewußt …?« Er hielt inne. »Hast du gewußt, daß es keiner der Offiziere, die die Titanic überlebten, je zum Kapitän gebracht hat?«
    »Nein, das habe ich nicht gewußt.«
    »Sie hatten einfach Pech. Im Lebenslauf macht sich so was nicht besonders. Was den Kapitän der Titanic betrifft, hatte er das Glück, mit dem Schiff unterzugehen. Wie man es von einem Kapitän erwartet. Weißt du, warum ich in die Staaten fliege?«
    »Zum Klettern?«
    Er schüttelte heftig den Kopf.
    »Nein, Alice, nein. Ich werde die Firma auflösen. Das war’s. Finito. Ich werde mir eine andere Art von Arbeit suchen. Kapitän Ahab hatte wenigstens soviel Anstand, mit dem Wal zu versinken. Menschen, die sich mir anvertraut haben, sind gestorben. Ich bin schuld, und nun bin ich am Ende.«
    »Nein, Greg«, sagte ich. »Bist du nicht. Glaub mir, es war nicht deine Schuld.«
    »Wie meinst du das?« fragte er.
    Ich drehte mich um. Adam stand noch immer am Fenster. Obwohl es wahrscheinlich Wahnsinn war – und Greg völlig betrunken –, mußte ich es ihm sagen, bevor er abreiste. Egal, was ich sonst tat oder nicht tat, das war ich ihm schuldig. Ich würde vielleicht nie wieder Gelegenheit dazu finden. Vielleicht bildete ich mir auch ein, in Greg einen Verbündeten zu haben. Daß ich mich nicht mehr so allein fühlen würde, wenn ich es ihm sagte. Irgendwie hatte ich die verrückte Hoffnung, daß er aus seinem betrunkenen, gefühlsduseligen Zustand aufwachen und mich retten würde.
    »Hast du Klaus’ Buch gelesen?« fragte ich.
    »Nein«, antwortete er und hob sein Glas.
    »Nicht, Greg!«

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