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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Expeditionsführer Greg McLaughlin passen, und das, obwohl er zu den besten Himalajakennern der Welt gehört und damals der Meinung war, eine narrensichere Methode entwickelt zu haben, um auch die unsportlichsten Typen einen Berg hinaufzuschaffen. Ich glaube, er litt plötzlich unter akuter Hypoxie, irgend etwas in der Art. Adam begleitete ihn hinunter und übernahm die Führung. Der zweite professionelle Bergführer, ein Franzose namens Claude Bresson, ein phantastischer Sportkletterer, war inzwischen nämlich ebenfalls am Ende. Er hatte schon Halluzinationen.«
    Deborah klopfte gegen ihren Brustkorb. »Wie sich später herausstellte, hatte er ein Lungenödem. Adam trug den Bastard ins Camp hinunter. Zu dem Zeitpunkt waren noch elf Kunden oben. Es war dunkel und hatte dreißig Grad minus. Adam kehrte mit Sauerstoff zu ihnen zurück und brachte sie in Gruppen nach unten. Er ist immer wieder losgezogen. Der Mann hat eine Kondition wie ein Stier.
    Aber eine Gruppe ging verloren. Er konnte sie nicht mehr finden. Ohne ihn hatten sie nicht die geringste Chance.«

    »Warum gehen die Leute überhaupt da hinauf?«
    Deborah rieb sich die Augen, sie wirkte völlig geschafft.
    Dann gestikulierte sie mit ihrer Zigarette.
    »Sie meinen, warum geht Adam da hinauf? Ich kann Ihnen nur sagen, warum ich hinaufgehe. Als Studentin –
    ich habe Medizin studiert – hatte ich mal einen Freund, der Kletterer war. Den habe ich manchmal begleitet. Die Leute haben gern einen Arzt dabei. Deswegen bin ich auch heute noch gelegentlich mit von der Partie. Manchmal bleibe ich unten im Camp, manchmal gehe ich mit hinauf.«
    »Mit Ihrem Freund?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Er ist inzwischen gestorben.«
    »Oh, das tut mir leid.«
    »Das liegt schon Jahre zurück.«
    Wir schwiegen beide. Ich überlegte krampfhaft, was ich noch sagen könnte.
    »Sie sind Amerikanerin, nicht wahr?«
    »Kanadierin. Ich bin aus Winnipeg. Kennen Sie Winnipeg?«
    »Nein, tut mir leid.«
    »Dort schaufeln sie schon im Herbst die Gräber für den Winter aus.« Ich muß sie ziemlich verdutzt angesehen haben. »Der Boden ist monatelang beinhart gefroren. Sie schätzen, wie viele Leute im Lauf des Winters sterben werden, und heben die entsprechende Anzahl von Löchern aus. Es hat Nachteile, in Winnipeg zu leben, aber man lernt dort immerhin, die Kälte zu respektieren.« Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt die Hände hoch. »Hier. Was sehen Sie?«
    »Ich weiß nicht.«

    »Zehn Finger. Vollzählig und unverstümmelt.«
    »Adam fehlen mehrere Zehen«, sagte ich. Deborah lächelte vielsagend, und ich lächelte reuevoll zurück. »Er könnte mir auch davon erzählt haben.«
    »Stimmt. Aber was Adam betrifft, liegt der Fall sowieso anders. Bei ihm war es eine bewußte Entscheidung. Ich sage Ihnen was, Alice, diese Leute haben Glück gehabt, daß sie ihn dabeihatten. Waren Sie jemals während eines Unwetters auf einem Berg?«
    »Ich war noch nie auf einem Berg.«
    »Man kann nichts sehen, man kann nichts hören, man weiß nicht einmal mehr, wo oben und unten ist. Man braucht eine gute Ausrüstung und viel Erfahrung, aber selbst das reicht nicht immer aus. Ich weiß nicht genau, woran es liegt. Manche Menschen behalten einfach die Nerven und können auch in Krisensituationen noch rational denken. Adam ist so ein Mensch.«
    »Ja«, antwortete ich und schwieg dann einen Moment, um sie meine Ungeduld nicht spüren zu lassen. »Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
    Sie überlegte kurz.
    »Er ist ein Mann, bei dem man das nie so genau weiß. Er wollte sich in einem Café mit jemandem treffen. Drüben in Notting Hill Gate, glaube ich. Wie hieß es noch mal?
    Moment.« Sie durchquerte den Raum und kam mit einem Telefonbuch zurück.
    »Hier.« Sie schrieb einen Namen und eine Adresse auf einen benutzten Briefumschlag.
    »Wann wird er dort sein?«
    Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
    »Jetzt, nehme ich an.«
    »Dann gehe ich wohl besser gleich.«

    Sie begleitete mich zur Tür.
    »Wenn Sie ihn dort nicht antreffen, kann ich Ihnen noch ein paar Leute nennen, bei denen Sie es versuchen können.
    Soll ich Ihnen meine Nummer geben?« Dann grinste sie.
    »Aber die haben Sie ja schon, oder?«

    Während ich im Taxi die Bayswater Road entlangfuhr, fragte ich mich ständig, ob er wohl dort sein würde. Ich dachte mir verschiedene Szenarien aus. Er ist nicht da, und ich verbringe die nächsten Nächte in Hotels und streife tagsüber durch die Straßen. Er ist da,

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