Höhenangst
meine Mutter freundlich an.
»Ich weiß, daß es schwer ist, sich an den Gedanken zu gewöhnen.«
»Und ihr wollt uns wirklich nicht dabeihaben?« fragte sie.
»Es hat nichts damit zu tun, daß wir nicht wollen, Mom, aber …«
»Nur zwei Trauzeugen von der Straße«, unterbrach mich Adam kühl. »Zwei Fremde, damit es wirklich nur Alice und ich sind. Wir wollen es so.« Mit diesen Worten richtete er seinen Blick auf mich, und ich hatte das Gefühl, als würde er mich vor meinen Eltern ausziehen. »Ist es nicht so?«
»Ja«, sagte ich leise. »Ja, so ist es, Mom.«
In meinem alten Zimmer, dem Museum meiner Kindheit, nahm er jeden Gegenstand in die Hand, als könnte er daraus wichtige Schlüsse ziehen. Meine Schwimmurkunden. Meinen alten Teddy, dem inzwischen ein Ohr fehlte. Meine alten, verkratzten Platten. Meinen Tennisschläger, der noch immer in der Ecke des Raums lehnte, gleich neben dem Papierkorb, den ich in der Schule geflochten hatte. Meine Muschelsammlung. Meine Porzellanpuppe, die ich von meiner Großmutter geschenkt bekommen hatte, als ich sechs war. Eine rosa ausgeschlagene Schmuckschatulle, die nur eine Kette aus Glasperlen enthielt. Er vergrub sein Gesicht in meinem alten Bademantel, der noch immer an der Tür hing. Er rollte ein Schulfoto von 1977 auseinander und identifizierte mein Gesicht, das scheu aus der zweiten Reihe lächelte. Er fand ein anderes Bild von mir, zusammen mit meinem Bruder. Es war aufgenommen worden, als ich fünfzehn war und mein Bruder vierzehn.
Adam studierte es mit gerunzelter Stirn, betrachtete einen Moment lang mein Gesicht und dann wieder das Foto. Er berührte jeden einzelnen Gegenstand, ließ seine Finger über jede Fläche gleiten. Dann glitten seine Finger über mein Gesicht, wo sie jeden Makel, jede Unebenheit genau erforschten.
Wir spazierten am eisigen Flußufer entlang. Unsere Hände berührten sich leicht, und elektrische Schauer jagten über meinen Rücken, während der Wind mein Gesicht peitschte. Einmal blieben wir stehen und starrten auf das langsam dahinfließende braune Wasser, das voller glitzernder Luftblasen, Holzstückchen und kleiner, gurgelnder Strudel war.
»Du gehörst jetzt mir«, sagte er. »Meine einzige Liebe.«
»Ja«, antwortete ich. »Ja. Ich gehöre dir.«
Als wir am Sonntag abend spät und müde in die Wohnung zurückkamen, spürte ich beim Hineingehen etwas unter meinen Füßen. Es war ein brauner Umschlag ohne Absender. Statt einer Adresse stand auf dem Kuvert nur:
»Wohnung Nr. 3.« Unsere Wohnung. Ich machte es auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus. Die Nachricht war mit einem dicken schwarzen Filzstift geschrieben:
»ICH WEISS, WO DU WOHNST.«
Ich reichte es Adam. Er warf einen Blick darauf und zog eine Grimasse.
»Immer nur telefonieren wird mit der Zeit eben langweilig«, sagte ich.
Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, daß hin und wieder jemand anrief und ins Telefon schwieg. Das hier war etwas anderes.
»Jemand ist an unsere Tür gekommen«, sagte ich. »Und hat den Umschlag unten durchgeschoben.«
Adam wirkte nicht beunruhigt.
»Immobilienmakler tun das auch.«
»Sollten wir nicht die Polizei anrufen? Es ist doch lächerlich, sich das einfach gefallen zu lassen und nichts dagegen zu unternehmen.«
»Was willst du ihnen sagen? Daß jemand weiß, wo wir wohnen?«
»Ich nehme an, damit bist du gemeint.«
Adams Blick wurde ernst.
»Ich hoffe es.«
15. KAPITEL
Ich nahm mir die Woche frei. »Für die Hochzeitsvorbereitungen«, sagte ich vage zu Mike, obwohl es eigentlich nichts vorzubereiten gab. Wir würden am Vormittag heiraten, in einem Rathaus, das aussah wie der Präsidentenpalast eines stalinistischen Diktators. Ich würde das Samtkleid tragen, das Adam mir gekauft hatte (»und nichts darunter«, hatte er mir aufgetragen), und als Trauzeugen würden wir uns zwei Fremde von der Straße holen. Nachmittags würden wir zum Lake District hinauffahren, wo ich in der eisigen Kälte stehen und zusehen sollte, wie Adam für die Mitglieder des ortsansässigen Kletterklubs an einer blanken Felswand hinaufkletterte. Nach dem Wochenende würden wir nach Hause zurückkehren, und ich würde wieder zu arbeiten anfangen. Vielleicht.
»Du hast dir einen Urlaub verdient«, erklärte Mike enthusiastisch. »Du hast in letzter Zeit viel zu hart gearbeitet.«
Ich sah ihn überrascht an. In Wirklichkeit hatte ich in letzter Zeit kaum einen Finger gerührt.
»Ja«, log ich. »Ich muß wirklich mal
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