Höhenangst
nicht in der Lage waren, sie zu retten?«
Ich brachte Adam den zweiten Whisky, und er legte den Arm um mich, als ich mich zu ihm hinunterbeugte.
»Bleib da«, sagte er, als ginge es bei dem Interview um unsere Beziehung. Ich setzte mich auf die Armlehne seines Sessels und legte meine Hand auf sein zerzaustes Haar. Einen Moment musterte er Joanna prüfend. »Was zum Teufel denken Sie denn?« antwortete er schließlich.
Er stand auf. »Ich glaube, das reicht, meinen Sie nicht auch?«
Joanna machte keine Anstalten aufzustehen. Statt dessen überprüfte sie, ob sich die Spulen ihres Kassettenrecorders noch drehten.
»Sind Sie inzwischen darüber hinweg?« fragte sie. Ich beugte mich hinunter und schaltete ihren Kassettenrecorder aus. Überrascht sah sie mich an. Unsere Blicke trafen sich, und sie nickte mir zu – anerkennend, wie mir schien.
» Darüber hinweg. «Adam klang, als wollte er ihr gleich ins Gesicht springen. Dann sagte er in einem völlig anderen Ton: »Soll ich Ihnen mein Geheimnis verraten, Joanna?«
»Darüber würde ich mich sehr freuen.«
»Ich habe Alice«, erklärte er. »Alice wird mich retten.«
Er brach in ein Lachen aus, das ziemlich verrückt klang.
»Eine letzte Frage«, sagte Joanna, während sie aufstand und ihren Mantel anzog. »Werden Sie weiter klettern?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich Kletterer bin. Klettern ist mein Leben.« Der Whisky ließ seine Stimme etwas verwaschen klingen. »Ich liebe Alice, und ich klettere gern auf Berge.« Er lehnte sich an mich. »Darin finde ich Erfüllung.«
»Ich bin schwanger«, verkündete Pauline. Wir spazierten Arm in Arm durch den St. James’s Park, waren im Umgang miteinander aber nach wie vor unsicher. Die Initiative zu diesem Treffen war von ihr ausgegangen, und ich war gar nicht so glücklich darüber. Mein altes Leben erschien mir so weit entfernt, fast ein bißchen unwirklich, als wäre das alles jemand anderem passiert. In jenem alten Leben hatte ich Pauline geliebt und mich stets auf sie verlassen können. In meinem neuen Leben war kein Platz für eine so intensive Freundschaft. Während ich an diesem frostigen Samstagnachmittag im Februar losging, um mich mit Pauline zu treffen, wurde mir klar, daß ich unsere Freundschaft vorerst auf Eis gelegt hatte. Ich nahm an, daß ich eines Tages darauf zurückkommen würde, aber im Moment war ich noch nicht so weit. Wir waren bis Einbruch der Dämmerung zusammen durch den Park spaziert. Früher hatten wir über so ziemlich alles miteinander reden können, aber nun bemühten wir uns, bestimmte Themen möglichst zu vermeiden. »Wie geht es Jake?« hatte ich sie irgendwann im Verlauf unseres Spaziergangs gefragt. Sie war leicht zusammengezuckt und hatte geantwortet, daß es ihm gutgehe. »Und wie geht’s dir mit deinem neuen Leben?« hatte sie daraufhin gefragt, obwohl sie es gar nicht wirklich wissen wollte.
Ich hatte auch nur ganz vage geantwortet.
Jetzt blieb ich stehen und legte die Hände auf ihre schmalen Schultern.
»Das sind ja wunderbare Neuigkeiten!« sagte ich. »Wie weit bist du schon?«
»Achte oder neunte Woche. Weit genug, um ständig mit einem Gefühl von Übelkeit herumzulaufen.«
»Ich freue mich sehr für dich, Pauline«, sagte ich.
»Danke, daß du es mir gesagt hast.«
»Das ist doch selbstverständlich, daß ich es dir sage«, antwortete sie steif. »Du bist schließlich meine Freundin.«
Wir hatten die Straße erreicht.
»Ich muß in diese Richtung«, erklärte ich. »Ich treffe mich gleich da vorn mit Adam.«
Nachdem wir uns mit einem Kuß auf beide Wangen verabschiedet hatten, drehte ich mich um und trat auf die unbeleuchtete Straße hinaus. Im selben Moment tauchte vor mir ein großer junger Mann auf, und bevor ich Zeit hatte, mehr zu registrieren als sein leichenblasses Gesicht und seinen leuchtend kupferroten Haarschopf, riß er mir auch schon die Handtasche von der Schulter.
»He!« schrie ich und rannte ihm hinterher. Ich bekam die Tasche zu fassen, die eigentlich gar nichts Wertvolles enthielt, und zerrte daran. Er fuhr herum und starrte mich an. Auf seine linke Wange war ein Spinnennetz tätowiert, und um seinen Hals zog sich eine Linie, über der stand: HIER AUFSCHNEIDEN. Ich trat nach seinem Schienbein, verfehlte es aber und startete einen zweiten Versuch. So, das hatte gesessen.
»Laß los, du blöde Kuh!« knurrte er mich an. Die Tragriemen meiner Tasche schnitten mir in die Finger, so daß ich tatsächlich loslassen mußte. »Blöde
Weitere Kostenlose Bücher