Höhenangst
bereits aus Klaus’ Buch kannte, wenn auch aus einer anderen Perspektive. Klaus’ Version der Chungawat-katastrophe wurde durch seine eigenen Emotionen beeinflußt: seine Aufregung, sein Gefühl, versagt zu haben, seine Desillusionierung, seine Angst, seine Bewunderung für Adam. Da kam vieles zusammen. Ich respektierte Klaus, weil er zugegeben hatte, wie verwirrend die Situation auf dem Berg gewesen war, als das Unwetter losbrach und mehrere Leute in Lebensgefahr schwebten, und daß er selbst nicht in der Lage gewesen war, diese Situation unter Kontrolle zu bringen.
Joanna sah das Ganze vor allem unter moralischen Aspekten. Für sie war es eine Geschichte über die korrumpierende Wirkung des Geldes und die Gefahren eines übertriebenen Heldenkults. Auf der einen Seite gebe es ein paar heroische Gestalten, die Geld brauchten, auf der anderen ein paar reiche Leute, die schwierige Bergbesteigungen unternehmen oder zumindest damit prahlen wollten, schwierige Bergbesteigungen unternommen zu haben; denn laut Joanna ließ sich darüber streiten, ob man so etwas tatsächlich als Bergbesteigung im engeren Sinn bezeichnen konnte. Nichts davon war mir wirklich neu. Das tragische Opfer in dieser Geschichte war natürlich Greg, den Joanna nicht vor ihr Mikrofon bekommen hatte. Nachdem sie zu Beginn ihres Artikels über die schrecklichen Ereignisse auf dem Chungawat berichtet hatte – die mich immer noch schaudern ließen, egal, wie melodramatisch sie geschildert wurden –, wandte sich Joanna den Anfängen von Gregs Karriere zu.
Er hatte als Bergsteiger wirklich Erstaunliches geleistet.
Bemerkenswert waren nicht nur die Gipfel, die er bezwungen hatte – Everest, K2, McKinley, Annapurna –, sondern auch die Art, wie er es getan hatte: im Winter, ohne Sauerstoff, mit einem Minimum an Ausrüstung.
Joanna hatte sich offensichtlich gut informiert. Demnach war Greg, was seine Einstellung zum Bergsteigen und Klettern betraf, in den achtziger Jahren fast so eine Art Mystiker gewesen. Damals hatte er die Besteigung eines schwierigen Gipfels als ein Privileg erachtet, das man sich erst durch eine jahrelange Lehrzeit verdienen mußte.
Anfang der Neunziger war er offenbar zu einem anderen Glauben bekehrt worden: »Früher habe ich hinsichtlich der Bergsteigerei eine sehr elitäre Einstellung vertreten«, zitierte Joanna aus einem anderen Text. »Inzwischen bin ich ein Demokrat geworden. Die Besteigung eines Berges ist eine großartige Erfahrung. Ich möchte diese Erfahrung allen Menschen zugänglich machen.« Allen Menschen, kommentierte Joanna trocken, die dreißigtausend Dollar auf den Tisch blättern konnten. Greg hatte einen Unternehmer namens Paul Molinson kennengelernt und mit ihm eine Firma gegründet, die Peak Experiences. Drei Jahre lang hatten sie Ärzte, Anwälte, Arbitragehändler und reiche Erbinnen auf Gipfel geschleppt, die noch wenige Jahre zuvor nur einer auserwählten Gruppe erfahrener Bergsteiger vorbehalten waren.
Joanna richtete ihr Augenmerk vor allem auf einen der Männer, die bei der Chungawatexpedition ums Leben gekommen waren, Alexis Hartounian, einen Börsenmakler von der Wall Street. Sie zitierte in diesem Zusammenhang einen anonymen Kletterer, der sich sehr verächtlich über Hartounian geäußert hatte: »Dieser Mann hatte ein paar der höchsten Gipfel der Welt bestiegen. Obwohl er alles andere als ein Bergsteiger oder Kletterer war, erzählte er jedem, der es hören wollte, daß er auf dem Everest gewesen sei. Aus seinem Mund klang das, als handle es sich um irgendeine Bushaltestelle. Nun, am Ende wurde er eines Besseren belehrt.«
Joannas Bericht über die Ereignisse auf dem Berg war nur eine Kurzfassung dessen, was Klaus in seinem Buch geschrieben hatte. Ein beigefügtes Diagramm zeigte das Seil, das an der Westseite des Grats befestigt gewesen war. Joanna beschrieb eine chaotische Situation, die von inkompetenten, kranken Bergsteigern, von denen einer nicht einmal Englisch gesprochen habe, kaum zu bewältigen gewesen sei. Sie zitierte nicht namentlich genannte Experten, die die Meinung vertraten, in einer Höhe von über achttausend Metern seien die Bedingungen für Bergsteiger, die sich nicht selbst helfen konnten, einfach zu extrem gewesen. Die Veranstalter hätten nicht nur ihr eigenes Leben riskiert, sondern auch das sämtlicher Expeditionsteilnehmer. Klaus hatte gegenüber Joanna geäußert, daß er dem bis zu einem gewissen Grad zustimme, aber einige der ungenannten Kommentatoren gingen
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