Höhenangst
unter größtem Druck noch in der Lage ist, klar zu denken. Dein Mann besitzt anscheinend diese Fähigkeit.« Mike hatte die ganze Zeit in seine Teetasse oder aus dem Fenster gesehen, überallhin, bloß nicht in mein Gesicht. Jetzt wandte er sich zu mir um und sah mich direkt an. »Und du besitzt sie auch.«
Ich mußte mich sehr beherrschen, um nicht loszuprusten.
Was für ein Kompliment! Falls es überhaupt eins war.
»Vielen Dank für die Blumen. Aber jetzt muß ich mich wieder an die Arbeit machen.«
Nach einigen Tagen hatte ich das Gefühl, mit allen Menschen auf der Welt gesprochen zu haben, die meine Telefonnummer besaßen, mit Ausnahme von Jake.
Trotzdem war ich überrascht, als Claudia mir am Dienstag sagte, eine Joanna Noble sei für mich am Apparat. Ja, sie wolle tatsächlich mich sprechen, erklärte Joanna, und es handle sich nicht um einen Versuch, über mich an Adam heranzukommen. Ja, es sei wichtig, und sie wolle unter vier Augen mit mir reden. Wenn möglich, noch heute. Wir könnten uns irgendwo in der Nähe meines Büros treffen, gerne auch sofort, falls meine Zeit es zulasse. Es werde nur ein paar Minuten dauern. Was hätte ich da sagen sollen? Ich bat sie, sich an der Rezeption zu melden, und schon eine Stunde später saßen wir in einer fast leeren Sandwichbar gleich um die Ecke. Joanna hatte noch kein Wort gesprochen, sondern mir nur die Hand geschüttelt.
»Ihre Geschichte hat Adams Glanz irgendwie auf mich abstrahlen lassen«, erklärte ich. »Immerhin bin ich die Frau des Helden.«
Sie schien sich unbehaglich zu fühlen und zündete sich eine Zigarette an.
»Er ist ein Held«, sagte sie. »Unter uns gesagt, war mir bei manchen Passagen des Artikels nicht ganz wohl.
Schuldzuweisungen sind immer eine heikle Sache. Aber was Adam dort oben geleistet hat, ist wirklich erstaunlich.«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei. »Er ist überhaupt ein erstaunlicher Mann, finden Sie nicht auch?« Joanna gab mir keine Antwort.
»Ich dachte, Sie würden längst an einer anderen Geschichte arbeiten«, sagte ich.
»An mehreren«, antwortete sie.
Ich sah, daß sie ein Stück Papier in der Hand hielt.
»Was ist das?«
Als sie auf das Blatt hinuntersah, wirkte ihr Blick fast ein wenig überrascht, als wisse sie nicht, wie es in ihre Hände gelangt war.
»Das ist heute morgen mit der Post gekommen.« Sie reichte mir das Blatt. Es war ein sehr kurzer Brief. »Lesen Sie es«, sagte sie.
Der Text des Schreibens lautete folgendermaßen: Liebe Joanna Noble, als ich Ihren Artikel über Adam Tallis gelesen habe, ist mir richtig schlecht geworden.
Sollten Sie Interesse daran haben, könnte ich Ihnen die Wahrheit über ihn erzählen. Falls es Sie tatsächlich interessiert, dann werfen Sie einen Blick in die Zeitungen vom 20. Oktober 1989. Wenn Sie wollen, können Sie mich anrufen, dann sage ich Ihnen, was für ein Mensch er wirklich ist. Das Mädchen in dem Artikel bin ich.
Mit freundlichen Grüßen, Michelle Stowe Verwirrt sah ich Joanna an.
»Klingt ziemlich gestört«, sagte ich.
Joanna nickte.
»Ich bekomme eine Menge solcher Briefe. Aber ich war in der Bibliothek beziehungsweise in unserem Archiv, in dem Zeitungen und Ausschnitte gesammelt werden. Dort habe ich das hier gefunden.« Sie reichte mir ein weiteres Blatt. »Es ist keine große Story. Die Meldung stand auf keiner Titelseite, aber ich dachte mir … na ja, bilden Sie sich selbst ein Urteil.«
Es war eine Fotokopie einer kleinen Zeitungsnachricht mit der Überschrift: »Richter schiebt die Schuld auf Vergewaltigungsopfer.« Im ersten Absatz war ein Name unterstrichen. Adams Name.
Ein junger Mann, der wegen Vergewaltigung vor Gericht stand, ist gestern schon am ersten Prozeßtag freigesprochen worden. Richter Michael Clark vom Winchester Crown Court instruierte die Geschworenen, ihn für nicht schuldig zu befinden. »Sie verlassen diesen Gerichtssaal ohne Makel«, sagte Richter Clark zu Adam Tallis, 23. »Ich kann nur bedauern, daß Sie überhaupt vor Gericht erscheinen mußten, um sich wegen einer so dürftigen und unbegründeten Anklage zu verantworten.«
Mr. Tallis war beschuldigt worden, Miss X, eine junge Frau, deren Name aus rechtlichen Gründen nicht genannt werden darf, nach einer Party, die in der Nähe von Gloucester stattgefunden hatte und von Zeugen als
»Saufgelage« beschrieben worden war, vergewaltigt zu haben. Nachdem Miss X einem kurzen Kreuzverhör unterzogen worden war, das sich auf ihre sexuelle Vorgeschichte und ihren
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