Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
angewidert das Gesicht. »Und du?«
Die Erinnerung an diese Nacht schien Victor ziemliches Unwohlsein zu bereiten. »Ich ... hatte Glück. Mich sah keiner. Als einige der Gestalten in den Stall eindrangen, zog ich mich an den Rand der Schlucht zurück. An dem Schreien erkannte ich, dass sie sogar die Pferde umbrachten.«
Leandra stöhnte auf.
Victor sprach jetzt schnell. »Dann trugen sie alle Getöteten zurück in den Gasthof. Zuletzt war es ganz still. Ich hoffte, dass sie jemanden übersehen hatten, vielleicht die alte Emmy, die Schankhilfe, die in einer winzigen Kammer im Keller schlief. Aber dann stand plötzlich der ganze Gasthof und die Scheune in Flammen.
Lichterloh. Von einer Sekunde auf die andere.«
»Grauenvoll!«, sagte Leandra, und Munuel murmelte nur: »Magie.«
Victor nickte. »Dann zogen sie davon. Wenige Minuten später war der ganze Zug verschwunden.«
»Und dann kamen Leute?«
»Ja, von den umliegenden Höfen. Sie hatten das riesige Feuer gesehen. Ich kam aus meinem Versteck und wollte ihnen erklären, was passiert war. Aber ich hatte das Pech, dass als Erste die Jacher-Brüder da waren, die mich hassen und mich immer schon als Herumtreiber und Taugenichts bezeichneten. Sie schrien herum, dass ich den Hof angesteckt hätte. Sie schlugen mich zusammen, und ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder aufwachte, war man dabei, mich in Ketten zu legen. Dann schleiften sie mich hinter den Pferden her bis nach Tulanbaar.«
Munuel fragte: »Hast du den Reiter noch einmal gesehen? Kam er bei dem Überfall um?«
»Ja, ganz sicher. Er war der erste, der oben aus einem der Fenster geworfen wurde. Unten machten sich ein Dutzend dieser Schattenwesen über ihn her. Er hat noch etwas gerufen, bevor sie ihn töteten.«
»Tatsächlich? Und was war das?«
»Hm. Ich weiß nicht genau. Der Name einer Frau vielleicht. Marie, Kharin oder etwas in der Art.«
»Kharin?«
»Ja, könnte sein. Ich bin wirklich nicht sicher. Kennst du eine Frau, die so heißt?«
Munuel schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein.«
In Victors Gesicht waren Schmerzen zu erkennen. Munuel überlegte, ob er versuchen sollte, die Stimmung des jungen Mannes mit seinen magischen Sinnen zu ergründen. Aber er entschied sich dagegen. Er hielt es für eine der verachtenswertesten Magien, das Denken anderer Menschen zu durchforsten. Meistens führte es zu sehr zweifelhaften Ergebnissen, und es war schlimmer, als würde man sie in aller Öffentlichkeit nackt ausziehen.
Außerdem verspürte derjenige, dem das widerfuhr, meist etwas davon. Dieser Victor, der ein wenig von Magie zu verstehen schien, wenigstens theoretisch, würde jedenfalls gewiss etwas spüren. Munuel hatte den Eindruck, dass er im Moment etwas apathisch war.
Trotzdem fragte Victor: »Hinter was seid ihr eigentlich her? Hinter diesen Schattenwesen?«
Munuel schüttelte den Kopf. »Du hast uns sehr geholfen, Victor, aber es ist besser, wir begraben das Thema jetzt. Und du musst uns versprechen, mit niemandem darüber zu reden. Das bist du uns schuldig!
Einverstanden?«
Victor nickte langsam.
21 ♦ Lakkamor
B ald darauf brachen sie auf. Sie räumten ihre Sachen zusammen, sattelten die Pferde und wandten sich nach Nordwesten. Lakkamor war nicht mehr weit, und Victor sagte, er kenne dort jemanden, bei dem er einige Tage verbringen wolle.
Sie ritten den Vormittag durch ein friedvoll wirkendes, bewaldetes Gebiet, das von hellem Licht durchflutet war.
Glücklicherweise war der Wind ein wenig abgekühlt, und es schien nicht mehr ganz so heiß werden zu wollen wie an den Tagen zuvor. In letzterem Fall wäre es in der Lederrüstung kaum auszuhalten gewesen, und Leandra hätte es vorgezogen, wieder in ihrem Kettenhemd zu reiten. Aber sie hätte Hemmungen gehabt, sich Victor so zu zeigen. Trotz der Tage in Guldors Hurenhaus und auch dem sehr gewagten intimen Erlebnis mit Hellami war sie, so sagte sie sich, immer noch ein anständiges Mädchen.
Victor ging es zunehmend besser. Leandra meinte fast mitverfolgen zu können, wie der freundliche Sonnenschein, der vom Felsenhimmel herab drang, die schrecklichen Eindrücke aus seinen Gedanken vertrieb.
Er schien jeden einzelnen Sonnenstrahl zu genießen und auskosten zu wollen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, wenn man tagelang in ein lichtloses Kellerloch eingesperrt war und nichts anderes tun konnte, als seinem eigenen Tod entgegenzublicken. Die Vorstellung war beklemmend, wenngleich sie auch spürte, dass sie es nie
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