Hoellenpforte
dünne Schmutzschicht auf ihr machten es Scarlett überhaupt möglich, sie zu erkennen. Es sah immer noch aus, als würde Lohan zwischen den beiden Gebäuden schweben. Er war ein Stück vom Dach weggegangen und stand jetzt über der Straße, hoch über den Menschen und den Autos, die aus dieser Höhe wie Spielzeuge aussahen.
Scarlett würde als Nächste gehen müssen.
Hinter ihr wurde die Tür zum Dach aufgestoßen. Ihre Verfolger waren über die Treppe gekommen und strömten jetzt aufs Dach hinaus. Es waren neun von ihnen, die zwar menschlich aussahen, aber mit ihren toten Augen und den blassen, leeren Gesichtern wirkten, als hätten sie seit Jahren kein Licht mehr gesehen. Ihre Haare waren verfilzt, ihre Kleidung halb vermodert und sie trugen keine Schuhe. Ein paar von ihnen hatten lange, schartige Messer dabei. Andere schleppten Kettenstücke hinter sich her oder trugen mit Nägeln gespickte Keulen.
»Los – geh!« Red stieß Scarlett vorwärts auf die gläserne Brücke zu. »Draco…« Er beendete den Satz auf Chinesisch.
Zum Diskutieren war keine Zeit mehr. Die Kreaturen rückten immer näher. Red ging mit erhobener Waffe auf sie zu, fort von der Sicherheit der Brücke. Scarlett sah nach unten. Die Brücke hatte kein Geländer. Ihre Oberfläche war nass und glitschig. Und, was noch schlimmer war, da sie durchsichtig war, vermittelte sie den Eindruck, als wäre sie gar nicht da. Scarlett stellte sich vor, wie sie einfach durch sie hindurchfiel oder das Gleichgewicht verlor und abrutschte. Sie konnte genau sehen, wo sie landen würde – auf der Straße dort unten, die schon auf sie zu warten schien.
Red feuerte einen Schuss ab und das Geräusch trieb sie voran. Sie konnte sich nicht umsehen. Sie konnte nicht nachsehen, was hinter ihr passierte. Sie musste sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag. Sie wagte einen Schritt, dann noch einen. Schon befand sie sich mitten in der Luft und der Wind zerrte an ihr. Sie spürte Draco hinter sich, der sie zur Eile antrieb, aber sie war vor Angst wie gelähmt. Lohan hatte zwar gesagt, dass sie nicht nach unten sehen sollte, aber wenn sie es nicht tat, wie sollte sie dann sicher sein, den Fuß an der richtigen Stelle abzusetzen? Der Regen schlug ihr so heftig ins Gesicht, dass sie kaum etwas sehen konnte. Sie fühlte, wie er über ihre Wangen rann.
Es fielen zwei weitere Schüsse und einen Moment später waren nur noch Schreie zu hören. Da wusste sie, dass Red geschnappt worden war und dass sie ihm grauenvolle Dinge antaten. Scarlett hasste sich dafür, dass sie nichts tat, um ihm zu helfen. Er war zurückgeblieben, um ihr die Flucht zu ermöglichen, und jetzt ließ sie ihn im Stich. All diese Leute riskierten ihr Leben für sie. Die Mauerdurchbrüche im ganzen Wohnblock und diese unglaubliche Glasbrücke waren extra vorbereitet worden für den Fall, dass sie sie brauchen würde. Und das Verrückteste war, dass Scarlett immer noch nicht wusste, wer diese Leute waren und wieso sie ihr halfen.
Irgendwie schaffte sie es auf die andere Seite und atmete beim letzten Schritt tief auf. Genau in diesem Moment verstummten Reds Schreie. Sie drehte sich um und sah, wie er von einer Gruppe dieser Wesen hochgehalten wurde, die direkt am Rand des Daches standen, das sie gerade verlassen hatte. Sein Körper war schlaff. Blut quoll aus einem Dutzend Stichwunden in seinen Armen und der Brust. Dann ließen sie ihn los. Er schien eher durch die Luft zu gleiten, als zu fallen, als wäre er schwerelos. Schließlich prallte er auf einem der geparkten Autos auf, schlug das Dach ein und brachte die Windschutzscheibe zum Bersten. Ein Alarm ging los. Mit triumphierenden Schreien betraten die Kreaturen, die ihn umgebracht hatten, die gläserne Brücke.
Lohan ließ sie nicht aus den Augen. Er wartete, bis sie etwa die Hälfte der Strecke hinter sich hatten, dann streckte er die Hand aus und schloss sie um einen an der Wand montierten Hebel. Er lächelte kurz und boshaft, bevor er den Hebel umlegte. Sofort brach die Brücke zusammen. Die verschiedenen Abschnitte der Brücke falteten sich zusammen und stürzten ab. Dasselbe Schicksal ereilte fünf ihrer Verfolger, die in einer Explosion aus Blut und Knochen auf der Straße aufschlugen. Die anderen blieben auf dem anderen Gebäude zurück, schüttelten wutentbrannt die Fäuste und hatten keine Möglichkeit mehr, sie zu erreichen.
Hinter ihnen tauchte etwas Unförmiges, Dunkles an der Dachkante auf. Der Fliegenschwarm war da. Lohan gab ihnen
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