Höllental: Psychothriller
hinter ihn zu setzen, um ihn beobachten zu können, doch das war so nicht möglich. Also nahm sie ihren Mut zusammen und glitt in die Bankreihe, in der er saß. Was sollte schon passieren? Selbst wenn die Jungs sich täuschten, und er war doch der Typ aus der Klamm, würde er ihr hier drinnen bestimmt nichts tun.
Sie rückte bis ganz zu ihm durch. Als sie sich neben ihn auf die Holzbank sinken ließ, sahen sie sich kurz an. Er nickte ihr auf schüchterne Art zu. Über der rechten Braue hatte er eine deutlich sichtbare Narbe. Seine Augen waren sehr dunkel. Ihr Blickkontakt dauerte nur Sekunden.
Mara strich ihren schwarzen Rock glatt, stellte die Füße nebeneinander und setzte sich aufrecht hin. So wie es sich in der Kirche gehörte. Die Gegenwart des Mannes irritierte sie. Sie versuchte zwar, sich auf die Menschen zu konzentrieren, die nach und nach die Kapelle füllten, musste aber immer wieder zu ihm rübersehen. Dabei bemerkte sie, dass er mit etwas in seinen Händen spielte.
Ein Schmuckstück.
Äußerlich glich sie bereits einer Salzsäule, aber jetzt erstarrte Mara auch noch innerlich.
Sie sah den Mann direkt an.
Seine Finger hörten auf, mit dem Medaillon zu spielen.
»Woher haben Sie das?«, fragte Mara leise.
»Wie bitte?«
Er hatte eine tiefe, volltönende Stimme.
Sie deutete auf das Medaillon. »Das da. Woher haben Sie es?«
Er hielt es etwas höher, aber nicht so hoch, dass jemand anders es hätte sehen können.
»Lange Geschichte«, sagte er ausweichend. »Warum fragen Sie? Kennen Sie das Schmuckstück?«
Mara fragte sich, ob sie mit diesem Fremden darüber sprechen durfte. Aber immerhin war er zu Lauras Beerdigung gekommen und musste sie gekannt haben. Das Medaillon bestätigte das. Sie entschied sich dafür. Der Fremde machte ihr keine Angst. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich von ihm angezogen. Auf die Art, wie man sich in einem schweren Unwetter von einem schützenden Baum angezogen fühlt.
»Kannten sie Laura?«, fragte sie.
Neben ihr ließ sich eine ältere Dame in einem teuren Kostüm nieder. Sie würdigte Mara keines Blickes. Ihr intensives Parfum betäubte Maras Nase.
»Nein«, sagte der Fremde.
»Wie kommen Sie dann zu ihrem Medaillon?«
»Also gehörte es doch ihr?«, fragte er und zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe.
»Darf ich es sehen?« Mara hielt ihm die Hand mit der Handfläche nach oben hin, und er legte das Medaillon hinein.
Sie nahm es zwischen die Fingerspitzen, drehte und betrachtete es.
»Sie hatte eines, das genauso aussah«, sagte sie schließlich. Wirklich sicher war sie sich nicht. Damals, als Laura es ihr gezeigt hatte, hatte sie es nur kurz gesehen.
»Dann war es ihres«, sagte der Fremde. »Ich fand es dort, wo sie … wo sie umgekommen ist.«
»Sie waren dort?«
»Ich war dabei … Leider.«
Mit lautem Dröhnen schlossen sich die schweren Türen. Augenblicklich erstarb jedes Rascheln und Hüsteln. Todesstille füllte d ie Kapelle. Der Pastor trat vor den Altar.
»Sie waren dabei?« Mara sprach leise, die Gäste in ihrer Nähe hörten es trotzdem.
Die teure Dame zu ihrer Linken warf ihr einen tadelnden Blick zu.
»Später«, raunte der Fremde und nahm Mara das Medaillon aus der Hand.
Vierzig Minuten später öffneten sich die Türen der Kapelle. Die Menschen erhoben sich von den Bänken, warteten aber noch, bis die Sargträger mit dem Sarg die Kapelle verließen. Ihnen folgten die Eltern. Roman konnte wegen seiner Größe einen kurzen Blick auf sie erhaschen. Friedhelm Waider ging aufrecht, sein Gesicht war eine reglose Maske. An seiner Seite, von ihm gestützt, weinte seine Frau.
Roman atmete tief ein. Während der Predigt hatte er das Gefühl gehabt, ersticken zu müssen. Er fühlte sich in Menschenansammlungen nicht wohl, das war schon immer so gewesen, und hier kam auch noch der geschlossene Raum hinzu, in dem man von einer schweren, niedrigen Decke geradezu erdrückt wurde. Das war es aber nicht allein. Während der Predigt hatte er wieder ihr Gesicht gesehen, ihre Augen. Den Ausdruck darin. Die Angst davor, von ihm gerettet zu werden. Immer wieder hatte er sich sagen müssen, dass er sie nicht hatte fallen lassen. Sie hatte sich seinem Griff entwunden. Sie wollte sterben.
Als die Gäste in der Bankreihe aufbrachen, wandte sich die junge Frau erneut an ihn. Während der Pastor über Laura Waider gesprochen hatte, hatte sie geweint, das hatte Roman aus den Augenwinkeln gesehen. Sie schien die Tote wirklich gut gekannt zu haben.
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