Höllental: Psychothriller
gar nicht fassen, krieg’s nicht in meinen Schädel!«
Er hob beide Hände und presste sie gegen die Schläfen seines Kopfes, der kahl war und nur aus Haut und Knochen bestand. In beiden Augenbrauen glitzerten Piercings.
»Was ist das für eine bekackte Welt? Der Armin war doch ein feiner Kerl, echt.«
Er sah Ricky an, als hätte er für einen Moment vergessen, dass da noch jemand war. »Warste ein Freund, oder was?«
Ricky nickte. Er fühlte sich wie betäubt. Sein Kopf war mit Watte angefüllt, sodass die Worte, die er hörte, nur verschwommen und gedämpft sein Hirn erreichten.
»Sind zusammen auf Berge gestiegen«, sagte er und hörte auch seine eigene Stimme wie aus großer Entfernung.
»O Mann, ja, hat er mal von gesprochen. Bergsteigen und so ’n Scheiß, ich weiß schon. Willste reinkommen? Ich hab was da, was gegen die Traurigkeit hilft.«
Der treudoofe Blick des Typen schnürte Ricky die Kehle zu, weil er darin echten Schmerz und Anteilnahme entdeckte.
»Du verarschst mich nicht, oder?«
Der Typ wich zurück, als wäre er ein Vampir und würde von Ricky mit dem Kreuz bedroht. »Ey, Mann, das würd ich nie machen! Nicht mit so ’ner Scheiße, Mann.«
Ricky sah ihn noch einen Moment an, senkte dann den Blick und nickte. »Danke«, presste er mühsam hervor, drehte sich um und taumelte die Treppen hinunter. Der Typ rief ihm irgendwas nach, doch Ricky hörte nicht hin. Erst als er in seinem BMW saß, kam er wieder zu sich, konnte sich aber nicht daran erinnern, wie er hergekommen war. Da er keinen Parkplatz in der Nähe von Armins Wohnung gefunden hatte, war es ein Fußmarsch von fünf Minuten gewesen, doch den hatte er in Trance zurückgelegt.
Heftig zitternd umklammerte er das Lenkrad. Sein Herz schlug dumpf in seiner Brust. Das wattierte Gefühl in seinem Kopf ließ nur langsam nach. Bilder zogen vor seinem inneren Auge vorbei.
Mit Armin zusammen hatte er im letzten Jahr im Saastal in der Schweiz den Dom bestiegen, einen viertausendfünfhundert Meter hohen schneebedeckten Gipfel, der technisch nicht schwierig war, aber eine gehörige Portion Kondition erforderte. Mehr Kondition, als er selbst hatte. Armin war, was das anging, immer ein Monster gewesen. Ihn schien wirklich nichts aus der Puste zu bringen. An jenem Tag herrschte starker Westwind, der sie ab einer Höhe von viertausend Metern dauernd auf die Knie gezwungen und ihnen Eiskristalle in die Augen gepustet hatte. Schon da fühlten Rickys Beine sich wie Pudding an, aber Armin feuerte ihn immer wieder an, wollte nicht lockerlassen, wollte unbedingt mit seinem Freund zusammen auf dem Gipfel stehen. Dieses Bild sah Ricky jetzt vor sich. Armin, wie er gerade aufgerichtet in seiner blauen Jacke vor ihm stand, dem Sturm trotzend, seine Hand ausstreckt, und schrie: »Komm schon, wir schaffen das, wir beide bezwingen diesen Gipfel, komm schon, gib nicht auf!«
Und sie hatten ihn bezwungen. Ricky mit buchstäblich letzter Kraft, sodass der Rückweg eine unglaubliche Tortur gewesen war, aber sie hatten ihn bezwungen, und es war ein beeindruckendes Erlebnis gewesen.
Armin im Schneesturm, so als könne er der Welt trotzen.
Ricky wollte und konnte sich nicht vorstellen, dass er jetzt tot sein sollte.
Die Tränen, die vorhin im Büro schon auf der Lauer gelegen hatten, schossen jetzt hervor. Mit einem lauten Schluchzer brach er über dem Lenkrad zusammen und heulte minutenlang hemmungslos. Er heulte so lange, bis er leer und kraftlos war.
Dann wischte er sich mit dem Ledertuch aus der Seitenablage den Rotz von der Nase und starrte durch die Windschutzscheibe. Er wünschte sich in seine Schulzeit zurück, aufs Gymnasium, in diese verrückte Zeit, als sie geglaubt hatten, die Welt liege ihnen zu Füßen, und es gäbe keine Türen und Tore, die sie nicht aufstoßen könnten. Trotz der Schwierigkeiten war das damals eine so freie, unbeschwerte Zeit gewesen. Diese Unbeschwertheit hatten sie eine Weile auch noch mit ins Berufsleben herüberretten k önnen, hauptsächlich durch ihre gemeinsame L eidenschaft für das Bergsteigen. Aber selbst da war es auch in den besten Zeiten nicht mehr so gewesen wie in der Schule. Nie mehr. Und Heulen würde nichts zurückbringen.
Heulen war für Schwächlinge.
Ricky fühlte sich zwar gerade wie einer, wusste aber, dass er das nicht zulassen durfte. Laura war tot, Armin war tot, zwei Unglücksfälle in so kurzer Zeit, das war hart und ungerecht, aber er musste damit fertigwerden. Denn Armins Tod änderte nichts an
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