Höllische Versuchung
vergaßen. Deshalb herrschte sie immer noch, während diese schon längst im Grab lagen.
»Genug«, sagte Raphael. »Lasst uns endlich zum Grund dieses Treffens kommen, damit wir wieder in unsere Territorien zurückkehren können.«
»Wo ist der Sterbliche?«, fragte Neha.
»Wartet draußen. Illium hat ihn aus dem Tiefland hergeflogen. Simon wird alt. Innerhalb des nächsten Jahres wird der amerikanische Zweig der Gilde einen neuen Direktor benötigen.«
»Dann lasst die Gilde doch einen wählen«, sagte Astaad achselzuckend. »Was geht es uns an, solange die Aufgaben der Gilde erfüllt werden?«
Die von entscheidender Bedeutung waren. Engel schufen zwar Vampire, aber letztlich lag es in den Händen der Jäger der Gilde, dass diese ihren hundert Jahre währenden Vertrag auch einhielten. In ihrer Gier nach Unsterblichkeit unterschrieben die Menschen den Vertrag leichtfertig, doch nach einigen wenigen Dienstjahren überlegte es sich manch neugeschaffener Vampir anders.
Trotz all der Mythen, die sich um die Engel und ihre unsterbliche Schönheit rankten, waren sie nicht nur ätherische, himmlische Wesen. Sie waren Herrscher und Geschäftsleute, knallhart und erbarmungslos. Für sie stellten Vampire Kapital dar und das verloren sie nur äußerst ungern. Daher brauchten sie die Gilde und ihre Jäger.
»Es ist aber wichtig für uns«, sagte Michaela mit schneidender Stimme, »schließlich ist der amerikanische Zweig der Gilde neben dem europäischen einer der mächtigsten. Und wenn der nächste Direktor seiner Aufgabe nicht gewachsen ist, müssen wir eine Rebellion fürchten.«
Raphael fand ihre Wortwahl sehr aufschlussreich. Offenbar hatte Michaela Angst, dass ihre Vampire jede sich bietende Gelegenheit nutzen würden, ihrer liebevollen Obhut zu entkommen.
»Das reicht jetzt.« Titus ließ die massigen Muskeln unter seiner glänzenden schwarzblauen Haut spielen. »Führt den Menschen herein und lasst uns hören, was er zu sagen hat.«
Raphael dachte genauso und sandte Illium eine telepathische Botschaft. Schick Simon herein.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein hochgewachsener Mann mit dem durchtrainierten Körper eines Soldaten trat ein. Er hatte schlohweißes Haar und ein faltiges Gesicht, doch seine Augen funkelten klar und strahlend blau. Sobald Simon über die Schwelle getreten war, schloss Illium die Türen, damit sie wieder ungestört waren.
Der alte Gildedirektor sah Raphael an und nickte ihm einmal kurz zu. »Ich fühle mich geehrt, dass Sie mich hergebeten haben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal vor dem Kader stehen würde.«
Ungesagt blieb dabei, dass die meisten Menschen, die es mit dem Kader zu tun bekamen, als Leiche endeten.
»Setzen Sie sich.« Favashi deutete auf einen leeren Stuhl vor dem Halbkreis.
Obgleich der Gildedirektor ohne Umstände Platz nahm, bemerkte Raphael, dass das Alter nicht spurlos an ihm vorbeigegangen war, schließlich hatte er diesen Mann auf dem Höhepunkt seiner Karriere erlebt. Doch er war auch kein alter Mann, würde es nie sein. Simon war ein Mann, den man respektierte. Einst, vor tausend Jahren, hätte ein solcher Mann Raphaels Freund sein können. Mittlerweile aber hatte er gelernt, dass das Leben eines Sterblichen nur einen Wimpernschlag währte.
»Sie wollen sich zur Ruhe setzen?«, fragte Neha hoheitsvoll. Sie war eine der wenigen, die noch Hof hielt – und selbst wenn die Königin der Gifte einen tötete, konnte man nicht umhin, ihre königliche Würde bis zum letzten schmerzhaften Atemzug zu bewundern.
Simon ließ sich von ihr nicht aus der Fassung bringen. Die vierzig Jahre als Gildedirektor hatten ihn selbstbewusst gemacht, zu Beginn seiner Karriere hätten ihn Nehas Worte verstummen lassen.
»Ich muss«, sagte er. »Meine Jäger wären zwar froh, wenn ich im Amt bliebe, aber ein guter Direktor muss das Wohl der gesamten Gilde im Auge haben. Ihr Anführer sollte in der Lage sein, sich notfalls auch an einer Jagd zu beteiligen.« Er lächelte wehmütig. »Ich bin erfahren und stark, doch längst nicht mehr so reaktionsschnell, und ich setze auch nicht mehr leichtfertig mein Leben aufs Spiel.«
»Offen und ehrlich.« Titus nickte anerkennend. Unter Kriegern und ihresgleichen fühlte er sich am wohlsten. Er regierte sein Land mit eiserner Faust und hielt mit seiner Meinung nie hinter dem Berg. »Nur ein mächtiger Feldherr tritt freiwillig zurück.«
Simon nahm das Kompliment mit einer leichten Verbeugung entgegen. »Ich werde immer ein
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