Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
fluchte, daß es
sicher im ganzen Tal zu hören war.
15
Der letzte Punkt wurde immer mit einer kleinen Zeremonie gesetzt. Eivind
Torsvik hatte morgens eine Flasche Vigne de l'Enfant Jesus geöffnet. Jetzt
atmete der Rotwein schon seit zehn Stunden. Er hielt das Glas ins Licht des
Bildschirms und ließ die Flüssigkeit darin kreisen. Er genoß das befriedigende
Gefühl, bald zum letzten Mal die Taste für den Punkt berühren zu können.
Er war in der Schule nie gut gewesen. In der Volksschule hatte er sich selten
blicken lassen. Nachdem er sich mit dreizehn Jahren die Ohren abgeschnitten
hatte und sein Leben ein wenig erträglicher geworden war, hatte er rasch
begriffen, daß es ihm an grundlegendem Wissen fehlte. Deshalb gab er mehr
oder weniger auf. Er kam ohne zurecht.
Eivind Torsvik wußte kaum etwas über die Geschichte des Parlamentarismus.
Natürlich hatte er vom amerikanischen Bürgerkrieg und der russischen
Revolution gehört, aber er hatte doch nur unklare Vorstellungen davon, wann
sie stattgefunden hatten und worum es dabei gegangen war. Was die Literatur
anging, so hielt er sich an drei Bücher: Moby Dick, Hamsuns Hunger und Jens Bjorneboes Traum vom Rad. Mehr las er nicht. Er hatte sie während seiner ersten Wochen im Gefängnis gelesen, als er nicht schlafen konnte. Danach hatte
er sie noch dreimal gelesen. Der Schlafmangel hatte zu einer Woche im
Krankenhaus ge
48
führt. Als er beschloß, es mit Schreiben zu versuchen, hatte er zugleich
beschlossen, niemals von anderen verfaßte Bücher zu lesen. Das würde ihn nur
durcheinanderbringen.
Beim IQ-Test im Rahmen der gerichtspsychiatrischen Untersuchung staunten
alle darüber, daß sein Resultat weit über dem Durchschnitt lag. Eivind Torsvik
nutzte seinen scharfen Verstand, um Bücher zu schreiben, die niemand
aufschlagen konnte, ohne sie dann zu Ende lesen zu müssen. Außerdem
sprach er gut Englisch, das hatte er gelernt, als er sich per Video
amerikanische B-Filme angesehen hatte, während die anderen Kinder in der
Schule saßen.
Da er nur selten Zeitung las, hatte sein Verlag ihm nach Erscheinen des ersten
Buches die Rezensionen per Post geschickt. Zum ersten Mal in seinem Leben
hatte Eivind Torsvik sich wirklich zufrieden gefühlt. Nicht, weil die Lobes-
worte ihm geschmeichelt hätten — was sie natürlich doch taten —, sondern
weil er das Gefühl hatte, gesehen zu werden. Verstanden. Sein erstes Buch war
ein dicker Schinken von über siebenhundert Seiten und handelte von einer
glücklichen Nutte, die in Amsterdams heruntergekommenen Seitenstraßen
regiert. Eivind Torsvik war niemals in Amsterdam gewesen. Als er ein Jahr
später erfahren hatte, daß sein Buch auch in den Niederlanden ein großer
Erfolg war, hatte er dem Wärter in Ullersmo, der ihm einen halbwegs
ausrangierten PC in die Zelle gestellt und gesagt hatte: »Hier, Eivind. Hier ist dein Schlüssel zur Welt da draußen«, einen dankbaren Gedanken gewidmet.
Eivind Torsvik dachte selten an seine Jahre im Gefängnis. Nicht, weil die
Erinnerung an die Zeit hinter Schloß und Riegel besonders schmerzhaft
gewesen wäre. Im Laufe der vier Jahre, die er nach einem an seinem
achtzehnten Geburtstag begangenen Mord hatte sitzen müssen, hatte er alles
gelernt, was er zu einem guten Leben brauchte. Neben Schreiben lernte er
auch den Umgang mit Computern. Die
49
Wärter machten Eivind Torsvik niemals Probleme, sie behandelten ihn mit
Respekt und manchmal sogar mit etwas, das wie Güte aussah. Die anderen
Häftlinge ließen ihn mehr oder weniger in Ruhe. Sie nannten ihn
»Engelchen«. Obwohl der Name eigentlich seine blonden Locken und sein
ewiges, unergründliches Lachen verspotten sollte, hatte er sich nie beleidigt
gefühlt. Da er wegen Mordes saß, ließen auch die Neuankömmlinge Engelchen
einigermaßen ungestört sein Leben leben. Nach zwei Monaten verlor niemand
mehr ein Wort über die fehlenden Ohren.
Wenn er zum ersten Mal seit langer Zeit an die Zelle dachte, in der er vier
Jahre verbracht hatte, dann geschah das, weil er jetzt den Schlußpunkt setzen
würde. Er schloß die Augen und suchte in seiner Erinnerung. Fünf Tage vor
seiner Entlassung hatte er zum ersten Mal die Freude erlebt, ein Manuskript
für vollendet erklären zu können. Da er im Gefängnis keinen Zugang zu Wein
hatte, hatte er sich schon lange im voraus eine Flasche Obstsprudel gekauft.
Ein Wärter hatte über seine Bitte gelächelt, hatte aber trotzdem ein
Weitere Kostenlose Bücher