Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Farbe und würde wohl irgendwann
braun werden. Die Lippen waren rot und zeichneten sich scharf von der
weißen Haut ab. Ein Saugbläschen auf der Oberlippe zitterte, als Hanne
behutsam mit dem kleinen Finger über das Kinn des Kindes strich.
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»Sie ist wirklich zum Fressen«, flüsterte sie. »Und sie hat überhaupt keine
Ähnlichkeit mit dir.«
»Gott sei Dank«, flüsterte Billy T. zurück. »Ich sag sowas doch nur, weil es von mir erwartet wird. Ich war außer mir vor Erleichterung, als ich gesehen habe,
daß sie rein gar nicht nach meiner Familie kommt.«
»Abgesehen von der Größe«, sagte Hanne und lachte leise, als sie unter der
rosa Decke an den Füßen des Babys zog. »Sie ist doch sicher größer als
normal?«
»Lang und schlank«, sagte Billy T. »Sechzig Zentimeter bei der Geburt. Und
nur 3700 Gramm.«
Hanne legte sich das Kind besser in ihrer Armbeuge zurecht. Es war kurz vor
dem Einschlafen. Die rechte Hand hielt einen Schnuller. Hanne versuchte, ihn
in den kleinen Mund zu stecken, aber er wurde sofort ausgespuckt und landete
auf dem Boden.
»Will nicht«, sagte Billy T. und setzte sich neben Hanne auf das Sofa. »Sie will ihn unbedingt in der Hand halten, aber nicht daran nuckeln. Cleveres Kind.
Läßt sich nicht betrügen.«
Das Baby machte ein Bäuerchen. Ein schmaler Streifen aus Spucke und Milch
sickerte aus seinem Mundwinkel. Hanne atmete tief durch die Nase und
empfand den süßen Duft des Kinderatems wie einen Schlag ins Zwerchfell.
Rasch kniff sie die Augen zusammen, um ihre Tränen zu unterdrücken.
»Ihr solltet euch auch ein Kind anschaffen«, sagte Billy T. und legte den Arm
um Hannes Schultern. »Das hättet ihr schon längst tun sollen.«
»Muß ich sie nicht an meine Schulter legen, wenn sie aufstößt?« murmelte
Hanne.
»Nicht doch. Sie schläft jetzt gut und atmet leicht. Warum macht ihr das
nicht?«
Hanne schaute sich in Billy T s Wohnung um. Erst vor
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zwei Jahren hatte sie über einen Monat hier gewohnt, als sie und Cecilie für
ein Jahr in die USA gegangen waren und der Mord an der Ministerpräsidentin
Birgitte Volter sie zurück nach Norwegen gelockt hatte. Jetzt war alles anders.
Seit Tone-Marits Einzug waren an die Wände Graphiken und in die Regale
Bücher gekommen. Die riesige Stereoanlage war in einen Schrank verbannt
worden, nur die Lautsprecher thronten noch immer neben der Dielentür unter
der Decke. Es versetzte Hanne einen Stich, als sie sah, daß die damals von ihr
genähten und aufgehängten Vorhänge ausgetauscht worden waren.
»Alles ist so anders«, flüsterte sie dem Kind zu.
Billy T. erhob sich und nahm das Kind vorsichtig von Hannes Schoß.
»Jetzt machst du bei Mama ein Nickerchen«, murmelte er und schlich ins
Schlafzimmer.
Als er gleich darauf zurückkam, setzte er sich nicht Hanne gegenüber in den
Sessel. Er ließ sich aufs Sofa fallen, wo er gesessen hatte, seit das Kind erwacht war — denn so hatten sie gemeinsam das Neugeborene bewundern und
betrachten können. Er legte wieder den Arm um Hannes Schultern — ganz
leicht —, und seine Fingerspitzen fuhren behutsam immer wieder über ihren
Oberarm.
»Ich finde das alles nicht so verdammt leicht«, sagte er so leise, daß sie für
einen Moment nicht sicher war, ob sie richtig gehört hatte.
»Was denn?«
»Das hier.«
Mit der freien Hand zeigte er vage auf das Zimmer.
»Die Wohnung. Die gehört irgendwie nicht mehr mir. Tone-Marit. . . «
Jetzt flüsterte er kaum hörbar, als fürchte er, Tone-Marit könne aufgewacht
sein, obwohl er sich doch eben erst davon überzeugt hatte, daß sie tief schlief.
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»Ich will sie ja hier haben«, sagte er langsam. »Ich liebe. . . ich liebe das, was sie mit mir macht. Vieles davon jedenfalls. Und das Kind ist wunderbar. Ich
freue mich wahnsinnig über das Kind. Ich bin glücklich über jedes Kind, das
ich mir zugezogen habe.«
Hanne lachte leise.
»Dir zugezogen«, wiederholte sie. »Das klingt wie fünf Krankheiten.«
Billy T. legte die Füße auf den Tisch und rutschte auf dem weichen Sofa noch
dichter an sie heran. Sie spürte sein Kinn an ihrem Ohr und merkte zugleich,
wie sie sich entspannte. Sie wußte nicht mehr, wann das zuletzt der Fall
gewesen war.
»Aber ab und zu könnte ich die Wände hochgehen«, sagte er dann. »Ich habe
das Gefühl, hier keine Luft mehr zu bekommen. Überall liegt Babykram
herum. Im Badezimmer riecht es nach Frau. Tone-Marit ist lieb und geduldig
und quengelt
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