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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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Rücksitze unter die Lupe, dann gehen beide um das Auto herum zum Kofferraum. Landsman dreht den Schlüssel im Schloss um, zögert aber einen Moment, bevor er den Kofferraumdeckel hochklappt.
    »Heilige Jungfrau, steh uns bei«, sagt er. Für ihn ist das schon ein richtiges Gebet.
    Der Kofferraum sieht sauber aus. Er bereitet sieben oder acht Wattestäbchen mit Leukomalachit vor und wischt damit vor allem in den Vertiefungen und Ritzen des Kofferraums herum. Dunkelgrau.
    Pellegrini seufzt und atmet langsam aus. Sein Atem steht als Wolke in der kalten Luft. Dann geht er zu seinem Cavalier hinüber und setzt sich hinters Lenkrad. Er hält das Armband ins Licht und schaut es sich genau an, obwohl er sich so gut wie sicher ist, dass es ihnen nicht weiterhelfen wird, dass in ein oder zwei Tagen von der Familie von Latonya Wallace die Antwort kommen wird, nein, sie hätten das Kettchen noch nie gesehen. Pellegrini wartet schweigend, während Landsman noch zwei Versuche mit den Wattestäbchen im Kofferraum macht, bevor er, die Hände tief in den Taschen seines Sakkos vergraben, zu ihrem Chevrolet zurückkehrt.
    »Fahren wir.«
    Mit einem Schlag überwältigt sie die Erschöpfung. Die beiden Detectives blinzeln in die Morgensonne, während der Wagen auf der Hartford Road Richtung Süden und dann über den Northern Parkway nach Westen rollt. Fünfzehn geschlagene Tage haben sie sechzehn bis zwanzig Stunden am Tag geackert und dabei eine Achterbahnfahrt von einem Verdächtigen zum nächsten mitgemacht, hin und her gerissen zwischen Euphorie und Verzweiflung.
    »Ich sag dir was«, murmelt Landsman.
    »Was?«
    »Was wir brauchen, ist ein freier Tag. Einmal ausschlafen, dann aufwachen und über die ganze Sache nachdenken.«
    Pellegrini nickt.
    Irgendwo bei der Anschlussstelle Jones Falls öffnet Landsman noch einmal den Mund.
    »Mach dir keine Sorgen, Tom«, sagt er. »Wir lösen den Fall.«
    Aber Pellegrini ist so müde und voller Zweifel, dass er gar nichts mehr antwortet.
    Im Büro von Jay Landsman breiten sich die Akten zum Fall Latonya Wallace wie ein Krebsgeschwür aus. Fotos vom Fundort, Berichte der Spurensicherung, Diagramme, noch mehr Berichte, Luftaufnahmen vom Gelände, die von einem Polizeihubschrauber aus geschossenwurden – das Papier quillt aus dem Ordner und verteilt sich über den Schreibtisch und die Aktenschränke des Sergeant. Eine zweite Front eröffnet sich auf Pellegrinis Arbeitsplatz im Nebenbüro, wo sich neben dem Schreibtisch Akten stapeln und ein Karton hinter dem Stuhl des Detective kurz vorm Platzen ist. Der Fall ist eine Welt für sich geworden, die ihren eigenen Gesetzen folgt.
    Doch für den Rest des Morddezernats geht das Leben seinen gewohnten Gang. Schon fast ein Jahrzehnt lang sind die Detectives daran gewöhnt, dass ihnen das Jahr zwischen 200 und 250 Leichen beschert, also zwei neue Fälle alle zwei oder drei Tage. Einige können sich sogar an seltene Jahre erinnern, in denen die Schwelle von 300 gewaltsamen Toden geknackt wurde, wie etwa in den frühen 1970ern. Doch nachdem die Unfallkliniken aufgerüstet wurden, sanken die Zahlen rapide. Seitdem wurde in den Operationssälen der Hopkins und der University Clinic noch so mancher gerettet, der aus allen Knopflöchern blutete. Doch seit zwei Jahren ist die Zahl der Leichen wieder etwas angestiegen und hat mit 226 im Jahr 1987 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, fällt aber noch nicht aus dem Rahmen der Statistik. An einem Freitagnachmittag können die Detectives der Nachtschicht Kim und Linda, den Sekretärinnen in der Verwaltung, dabei zusehen, wie sie leere rote Aktenordner nummerieren: 88041, 88042, 88043 – und sie können sich sorglos darauf verlassen, dass irgendwo in den Straßen der Stadt bereits die nächsten Opfer ihrem Vergessen entgegenstolpern. Manche altgediente Detectives reißen darüber ihre Witze: Ich sag dir was, die Fallnummern sind ihnen schon mit ultravioletter Tinte auf den Hintern tätowiert. Wenn man so einen mit der richtigen Lampe beleuchten, ihm die Nummer 88041 auf seiner rechten Arschbacke zeigen und erklären würde, was sie bedeutet, der arme Hund würde auf der Stelle seinen Namen ändern und sich irgendwo in einem Loch verkriechen. Oder er würde in den ersten Greyhound nach Akron oder Oklahoma City oder sonst ein gottverlassenes Kaff springen. Aber das geschieht nie – die Statistik bleibt unerbittlich.
    Natürlich bieten die Zahlen immer Raum für statistische Ausrutscher. Es gibt Wochenenden, da

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