Honky Tonk Pirates - Es kann nur einen geben - Band 4

jetzt standen sie oberhalb eines gigantischen Halbrunds und starrten in ein riesiges Loch, in das über eine Länge von fast einer halben Meile die Wasser des Flusses fünfzig Meter in die Tiefe stürzten. Die Sonne ging auf und während sich ein Regenbogen über die Niagarafälle spannte, strahlte Hannah den Amerikaner vor Freude an.
    »Wir haben’s geschafft!«, schrie sie, obwohl sie wusste, dass Nat sie nicht hören konnte.
    Und dem war das gerade recht. Er wollte und konnte sich nicht an der gewaltigen Schönheit der Fälle erfreuen. Er dachte an Will und dessen Schicksal. Ob er den Mohawks entkommen war oder ob er jetzt doch und durch ihre Schuld an ihren Marterpfählen litt? Er fühlte sich wie ein mieser Verräter.
    Da nahm Hannah seine Hand. »Hey, so ist das Leben!«, rief sie mit bernsteinfunkelnden Augen und dieses Mal las Nat die Worte von ihren Lippen ab. »Es ist so gewaltig und grausam und dabei doch so wunderschön. Schau es dir an und genieße es, Nat. Man lebt nur einmal! Ein einziges Mal.«
    Da spürten sie etwas in ihrem Rücken. Sie drehten sich um und sahen den Baumstamm. Er hing quer in der Luft und er schwang an zwei Seilen, die um seine Enden geschlungen waren wie eine überdimensionale Schaukel auf sie zu. Er traf ihre Brust, schleuderte sie rücklings ins Wasser und dort trieben sie auf den Wasserfall zu.
    Nat dachte an Will und die Flaschenpost, kurz nachdem sie den Hudson verlassen hatten. Das war schon eine Ewigkeit her.
Dann sah er Hannah und stürzte mit ihr – so wie damals mit Will – die Fälle hinab in das Loch, das laut seinem Onkel O’Brian aus dem Himmel hinab durch die Erde direkt in die Hölle führte.
     
    Unten, zu Füßen des Wasserfalls, tauchten sie auf, drehten sich leblos in den Wirbeln und Strudeln, so als würden sie noch ein letztes Mal tanzen, und trieben dann langsam den Fluss hinab. Doch dort wurden sie bereits erwartet. Der Kerl saß reglos in seinem Kanu und seine feuerroten Haare brannten im Licht der Sonne, die sich gerade über der Insel erhob, die den Niagara und den Wasserfall an dieser Stelle teilte.
     
    Ja, und dieselbe Sonne schüttete in diesem Moment ungefähr hundertfünfzig Meilen nordöstlich ihr rotgoldenes Licht auf eine Reihe von Inseln, die sich den St.-Lorenz-Strom hinauf bis in den Ontariosee wie eine Perlenkette zog. Sie ließ die tausend Inseln wie Edelsteine erstrahlen, sodass selbst der fiese Prinz Gagga auf der Brücke des Valashelms vor Ehrfurcht den Atem anhielt.
    Doch als der Neffe des Königs von Frankreich den Schwarzen Baron neben sich sah, wie er finster dastand und keine Miene verzog, musste er kichern. Er schlug dem schmächtigen Kerl im strengen Hugenottengewand auf die Schulter und hänselte ihn: »Hey, Talleyrand. Die Welt hat sich weitergedreht. Auch die finsteren Burschen dürfen das Leben genießen. Ach was, gerade sie dürfen das. Also, mach dich mal locker.« Er öffnete ihm den Kragen mit dem adretten Spitzenbesatz. »Komm, freu dich auf den Sieg. Es gewinnt sich viel leichter, wenn man Spaß daran hat.«

    Damit sog er die Luft ein und genoss die wärmenden Strahlen, während Valas, der Pottwal, von seiner Wolke aus schwarzen Möwen umflattert, aus dem Flusslauf in den Ontario schwamm, von dem weiter im Westen der Niagara in den Eriesee führte. Doch dazwischen lag das, was der alte Suffkopf O’Brian das Loch zwischen Himmel und Hölle nannte. Und das war ihr Ziel. Da wollten sie hin.

TEIL DREI
Zwischen Himmel und Hölle

DIE HOFFNUNG IST NUR EIN SEIDENER FADEN

    D och dieselbe Sonne, die an diesem Morgen Zeuge wurde, wie Honky Tonk Hannah und ihr neuer Freund Nat – falls sie überhaupt noch am Leben waren – zu Füßen der Niagarafälle in die Hände von Feuerkopf Finn hineintrieben …
    … dieselbe Sonne, die Valas, den Pottwal, dabei beobachtete, wie er von Schwärmen von schwarzen Möwen umflattert, aus dem St.-Lorenz-Strom in den Ontariosee hinausschwamm …
    … dieselbe Sonne sah auch noch etwas anderes. Etwas, das schön war: als hätte ein mächtiger Riese eine Handvoll kleiner Sterne in den Atlantik geworfen. Oder als hätte ein Gott, der es gut mit uns meint, goldene Delfine erschaffen.
     
    »Ja-mahn!«, begrüßte Moses den Tag, als das erste Licht am Horizont zu sehen war.
    Er blickte zu der Flotte aus zweihundert kleinen Booten zurück, in denen ihm die Straßenkinder Berlins, die Roten Korsaren, über den Atlantik in die Neue Welt folgten. Immer zwei von ihnen saßen in einem der