Honor Harrington 15. Die Spione von Sphinx
geschmeichelt fühlen würde, wenn der Kommandant ihm mit einem Bibelzitat kam – dass er es sie aber erst merken ließe, wenn es schon zu spät war.
Judith war bereits davon geschockt zu sehen, wie sich die Pinassen weit vor ihrem angenommenen Zeitplan dem Psalter und dem Sprüche näherten, doch als sie Ronald Sands' ›Ersuchen‹ hörte, beschlich sie wachsendes Entsetzen. Sie hatte damit gerechnet, dem Psalter und dem Sprüche davonlaufen zu müssen, und auch einen Kampf gegen ein oder zwei LACs einberechnet, doch selbst in ihren schlimmsten Albträumen war ihr nicht der Gedanke gekommen, der manticoranische Kreuzer könnte sich gegen den Exodus wenden.
Sie erschauerte, und dann wurde alles noch schlimmer.
Mit einem Gesicht so weiß wie Milch brach Odelia die Stille.
»Judith, Ronald Sands ruft das andere fremde Schiff, den Haveniten Moscow . An ihn richtet er die gleiche Bitte. Der Brückenoffizier hat ebenfalls um Zeit gebeten, um seinen Kommandanten zu fragen.«
Es ist vorbei. Die verräterische Stimme, die in Judiths Gedanken geflüstert hatte, während diese sich bemühte, ihren Plan der veränderten Situation anzupassen, erhob sich nun zu einem trauererfüllten Triumphlied. Gib auf. Es ist vorbei.
»Nein!«, rief sie laut, und die Köpfe ihrer ohnedies entsetzten Brückencrew zuckten zu ihr herum. Ohne Zweifel fragten sie sich, ob ihre junge Befehlshaberin den Verstand verloren hatte.
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Judith. »Haben wir denn nicht geschworen, eher zu sterben, als uns wieder in die Sklaverei zu ergeben? Hat Gott uns nicht viele Wunder gewährt und uns gezeigt, dass er auf unserer Seite steht?«
Sie sah Dinah nicken, doch alle anderen blieben steif und angespannt.
»Wir lassen uns nicht mit ein paar Worten besiegen«, fuhr Judith hartnäckig fort. Ein Gedanke, der in ihren Gedanken umhergeschwebt war, trat nun klar in den Vordergrund.
»Die Wahren Gläubigen sind doch nicht die Einzigen, die Hilfe von den Manticoranern und Haveniten erbitten können«, sagte sie. »Was, wenn wir Schutz vor Ephraim erbitten – was, wenn wir den Fremden sagen, dass uns der Foltertod droht, wenn wir nach Masada zurück müssen?«
Dinah reagierte so rasch, dass Judith sich fragte, wie lange sie einen ähnlichen Vorschlag zurückgehalten hatte.
»Was hätten wir zu verlieren?«, fragte die ältere Frau eindringlich. »Früher oder später müssen wir ohnehin jemanden um Hilfe angehen. Warum nicht jetzt?«
»Wir können uns nicht an beide wenden«, sagte Odelia nachdenklich. »Nach allem, was ich gehört habe, sind sie Rivalen, wenn nicht sogar verfeindet. Wir müssen uns für den einen oder den anderen entscheiden.«
Dinah blickte Judith an.
»Captain?«
Judith leckte sich die Lippen. Ihr fielen viele gute Gründe ein, den Haveniten den Vorzug zu geben. Ihr Schiff war größer und kampfstärker. Sie traten für Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker ein. Judith kam jedoch auch Dinahs Feststellung in den Sinn, wie bereitwillig die Haveniten die Waffensysteme von Ephraims Schiffen modernisiert hatten. Und sie erinnerte sich an noch etwas anderes.
»Odelia, hast du gesagt ›seinen Kommandanten‹, als du von dem havenitischen Offizier sprachst?«
»Ja, Judith.« Odelia sah sie erstaunt an. »Es war eine Männerstimme.«
»Aber an Bord des Intransigent sprach eine Frau«, sagte Judith. »Eine Frau würde doch gewiss größere Sympathie für unsere Ziele empfinden.«
Dinah fiel sofort in die Rolle des Advocatus Diaboli und hielt gegen das, was sie, wie Judith wusste, selbst entschieden hätte: »Doch diese Lieutenant Dunsinane könnte von einem Mann befehligt werden.«
»Dennoch ist er ein Mann, der einer Frau seine Brücke anvertraut«, entgegnete Judith fest. »Vielleicht hört er uns an.«
Es folgte kein weiterer Einwand, und so legte sich Judith kurz zurecht, was sie sagen wollte, dann wandte sie sich Odelia zu.
»Rufe den Intransigent . Wenn möglich über einen gebündelten Richtstrahl. Wir wollen nicht, dass Ephraim hört, was wir vorhaben.«
Odelia konsultierte kurz den Computer und nickte.
»Der Intransigent antwortet.«
»Überprüfe noch einmal, dass du nicht die falschen Bilder zuschaltest«, sagte Judith. »Es ist Zeit, dass uns jemand als die kennt, die wir sind.«
Von Ronald Sands' Nachricht hatten sie nur den Audioteil abgehört, und so sah Judith Lieutenant Dunsinane nun zum ersten Mal. Ihre Ohren hatten sie nicht getrogen. Die
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