Honor Harrington 8. Die Siedler von Sphinx
mittlerweile hatte ihr Verstand die Informationen verarbeitet, auf die sie vorher nur spontan hatte reagieren können.
»Nessler«, sagte sie und brachte deKyper, die in einer endlosen Litanei ihren Unwillen bekundete, zum Verstummen. »Unter keinen Umständen sollten Sie mit diesem Menschen Karten spielen. Das Spiel, das er bringen ließ, ist gezinkt. Die Karten senden ihren Wert an den Pfeifenstiel, und Orloff spürt die Signale als schwache Vibrationen an den Zähnen.«
Nessler zog eine Augenbraue hoch, während er aus dem Wagen stieg. »Beim Kartenspiel zu betrügen passt doch sehr gut zu diesem Herrn, oder finden Sie nicht? Ich … na, ich bin froh, dass Sie sein Rüstzeug erkannt haben. Ich hätte das nicht gekonnt.«
Mincio versuchte aufzustehen, konnte aber nicht, so sehr bebten ihre Muskeln. Sie barg das Gesicht in den Händen.
Nessler half deKyper aus dem Flugwagen. Einen Augenblick lang sprachen sie leise miteinander, dann verkündete deKyper: »Ich bin auf der anderen Seite des Pylonen.« Knirschend entfernten sich ihre Schritte.
Nessler räusperte sich. »Äh, Mincio?«, fragte er.
Mincio ließ die Hände sinken. Ohne Nessler in die Augen zu sehen, sagte sie: »Ich habe noch nie ein Wort über meinen Vater verloren. Er war Berufsspieler. In meiner frühesten Erinnerung spiele ich mit meinem Vater Karten. Wenn ich einen Fehler beging, hat er mich bestraft. Als ich drei Jahre alt war – wenn überhaupt –, hat er mir den Hintern versohlt, wenn ich alles auf eine unsichere Karte gesetzt habe.«
»Es tut mir leid, dass dieses Thema aufgekommen ist«, sagte Nessler leise. »Wir müssen uns morgen nicht in die Nähe der Melungeoner begeben. Vielleicht kann Rovald dort allein Bilder aufzeichnen.«
»Es stört mich nicht, wenn Leute in meiner Gegenwart spielen«, sagte Mincio. Dem fernen Horizont zugewandt, lächelte sie schwach. »Eigentlich fesselt es mich noch immer. Mein Vater hat mich sehr gut geschult, aber seit dem Tag seines Todes habe ich kein Kartenspiel mehr angerührt.«
Sie stand auf und sah ihrem Freund und Arbeitgeber in die Augen. Dann lächelte sie wieder, allerdings zitterte ihr Mundwinkel schwach. »Er ist erschossen worden, als ich sechzehn war. Kein Duell – ein Mord, ein bezahlter Anschlag. Da mehrere seiner Betrugsopfer Selbstmord begangen hatten, ist damit wohl nur der Gerechtigkeit genüge getan worden.«
Nessler schüttelte bedächtig den Kopf. »Der Tod Ihres Vaters tut mir leid, Mincio«, sagte er. »Auch wie er sein Leben führte. Aber Sie können nichts dafür. Ich fühle mich nach wie vor geehrt, beim Studium der alphanischen Kultur Ihr Schüler sein zu dürfen, und verbeuge mich ehrfürchtig vor Ihrem Wissen.«
»Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht solch ein Narr sind, dem bloßes Wissen schon Ehrfurcht abverlangt«, entgegnete Mincio scharf. »Genauso wenig bin ich von bloßem Reichtum beeindruckt. Lassen Sie uns einen Blick auf den Pylonen werfen! Ich möchte wissen, ob alle sechs die gleiche chemische Zusammensetzung besitzen.«
Nachdem sie deKyper vor den beiden Lagerschuppen am Rande Kuepersburgs abgesetzt hatten, in denen die alte Dame wohnte, landete Nessler auf Singhs Hof. Überall an den Gebäuden strahlten durch Generatoren gespeiste elektrische Lampen, und Dutzende von Menschen mussten sich beiseite drängen, um dem Flugwagen die Landung zu erlauben. »Sir!«, rief Beresford, kaum dass Nessler die Turbinen abgestellt hatte. »Im Orbit liegt ein jathanischer Frachter, der eine Pinasse von einem unserer Zerstörer mitbringt. Ein Havie-Kreuzer hat ihn im Air-System in Stücke geschossen. Die Leute hoffen, dass Sie, weil Sie doch ein Gentleman sind …«
Nessler erhob sich mit leicht verändertem Gesichtsausdruck. »Ein Gentleman hoffe ich zu sein«, sagte er, »ohne Zweifel aber bin ich Raumoffizier der Reserve. Darf ich fragen, wer den Befehl über die Leute hat?«
Singh stand an der Haustür, mischte sich jedoch nicht in Angelegenheiten ein, von denen er hoffte, sie seien nicht länger die seinen. Mincio stieg aus und stellte sich in eine Hofecke, von der aus sie das Geschehen beobachten konnte, ohne jemandem im Weg zu sein.
Die Menschen, die den Hof anfüllten, trugen entweder Arbeitsuniformen der Royal Manticoran Navy oder weite, auf Hope hergestellte Kleidung, die der konsularische Bevollmächtigte ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Einige der Schiffbrüchigen waren verwundet; die meisten trugen hohläugige, traurige Gesichter zur Schau, mehr
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