Hotel Pastis
immer sie im Lichte der Öffentlichkeit standen. Es war noch nicht der Augenblick für einen Entscheidungskampf, aber er würde kommen. Simon wußte es, und der Gedanke daran — der ihn früher erregt hätte — rief nur noch eine tiefe Müdigkeit in ihm hervor.
Wie viele Werbeleute dachte auch er immer wieder vage daran, auszusteigen. Aber was sollte er dann machen? Er verspürte kein Verlangen, in die Politik zu gehen, ein Edelbauer zu werden oder über den Graben auf die Kundenseite zu springen und ein Unternehmen zu führen, das Bier oder Seifenpulver herstellte. Außerdem, gab es irgend etwas auf der Welt, das so gut bezahlt wurde wie Werbung? Er bewegte sich vielleicht in ausgefahrenen Gleisen, aber diese Gleise brachten einen beträchtlichen Luxus mit sich, den man ohne eine wirklich attraktive Alternative nur schwerlich aufgeben konnte. Und so wurde er mit diesen Augenblicken der Unzufriedenheit wie viele seiner Kollegen fertig, indem er immer neue Ablenkungsmanöver erfand — einen schnelleren Wagen, ein größeres Haus, ein weiteres kostspieliges Hobby. Ein üppiges Leben ist nicht nur die beste Rache, sondern auch die leichteste.
Er hatte die langen, sanften Hügel Burgunds erreicht und überlegte, ob er in Chagny haltmachen und bei Lameloise zu Mittag essen sollte. Gefährlich. Statt dessen hielt er an einer Tankstelle, trank eine Tasse bitteren Kaffee und sah auf die Karte. Er könnte am Nachmittag, wenn er den schwierigsten Teil der Fahrt hinter sich hätte, in Avignon sein und mit einem pastis im Schatten einer Platane sitzen. Er tankte den Porsche voll und fuhr weiter Richtung Süden.
Als die Ortsnamen — Vonnas, Vienne, Valence — an ihm vorbeiflogen, wurde das Licht heller; der Himmel schien sich in endlosem Blau auszudehnen, und die Landschaft mit den Felsen und den knorrigen Krüppeleichen wurde rauher. In den Weingärten, die aus den Hügeln herausgeschnitten waren, ernteten versprengte Gestalten die ersten Trauben. Dies war Côtes-du-Rhône-Gebiet, in dem ein solider Wein für Leute mit außergewöhnlichem Durst und Appetit heranwuchs. Simon freute sich schon auf die erste Flasche.
Das Hinweisschild nach Avignon tauchte auf und huschte vorbei, während er sich darüber klarzuwerden versuchte, ob er wie geplant hinunter zur Küste fahren oder Murats Ratschlag folgen sollte. Prochaine sortie Cavaillon. Warum nicht? Er konnte immer noch am nächsten Tag weiterfahren, wenn es ihm dort nicht gefiel.
Er bog bei der Ausfahrt nach Cavaillon ab und überquerte die Brücke über die Durance, die nach der Sommerdürre eher ein Rinnsal als ein Fluß war. Als er in die Stadt hineinfuhr, sah er unter Bäumen aufgestellte Cafétische, braune Gesichter, kühle goldfarbene Gläser mit Bier. Er parkte den Porsche, entspannte den Rücken und vollzog die kleinen akrobatischen Bewegungen, die beim Aussteigen erforderlich waren. Nach der Fahrt hinter gefärbten Fensterscheiben und mit der Klimaanlage im Wagen waren das gleißende Licht und die Hitze wie ein Schock für ihn. Die Sonne prallte mit einer Kraft auf seinen Kopf, daß er regelrecht zusammenzuckte. In Paris war Herbst gewesen; hier aber war es noch wie im August. Selbst mit geschlossenen Augen hätte er an den Düften, die aus dem Café strömten, erkannt, daß er sich in Frankreich befand — schwarzer Tabak, starker Kaffee und der scharfe Anisgeruch aus den pastis -Gläsern an der Bar. Die Männer, die am Tisch Karten spielten, trugen fast alle ärmellose Westen und ausgeblichene, unförmige Mützen. Sie blickten durch den Qualm ihrer Zigaretten zu ihm auf, und er spürte, daß seine saubere Kleidung ein wenig deplaziert wirken mußte.
»Bière, s’il vous plaît.«
»Bouteille ou pressiong?« Die Stimme des Mannes hinter der Bar klang rauh, sein Akzent breit. Es klang wie Französisch, aber nicht wie das Pariser Französisch, nicht einmal wie das an der Küste. Es klang schärfer.
Simon nahm sein Kronenbourg und setzte sich ans Fenster. Er hatte den Eindruck, daß jedes zweite Fahrzeug, das vorbeifuhr, ein großer Laster war, der sich brummend den Weg durch den Verkehr bahnte und mit dem Obst und Gemüse beladen war, die in der Provence im Überfluß gediehen. Simon lauschte den Stimmen um ihn herum und fragte sich, wie er mit seinem dürftigen Französisch den zäh dahinfließenden Silbenbrei bewältigen sollte. In diesem Moment wurde ihm bewußt, daß seit Jahren das erste Mal niemand genau wußte, wo er sich aufhielt. Ja, er wußte selbst
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