Hueter der Daemmerung
wusste, dass es mich interessieren würde, sodass mich die ängstliche Unruhe, obgleich sie nicht eine Sekunde lang verschwand, nicht komplett überwältigte.
Ein Kunstmuseum, das ganz aus gewaltigen Deckengewölben und barocken Vergoldungen bestand; eine Plaza mit aztekischen Ruinen, Seite an Seite mit einer mittelalterlichen Kirche und einem modernen Bürogebäude; eine weitere Kirche, klein und aus Stein errichtet, die sich so dramatisch neigte, dass mir schon bei der Besichtigung ganz schwindlig wurde. »Das passiert, wenn man eine Stadt auf Schlamm baut«, erklärte Seb, den meine Miene erheiterte.
Wir gingen in einen Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite und tranken Cola auf den Stufen eines Denkmals. Jemand spielte Gitarre und der Duft nach Maismehl und Gewürzen von den Straßenständen wehte vorbei. Der Nachmittag war wärmer geworden, also hatte Seb sich seinen Pullover ausgezogen und um die Taille geknotet. Ich hatte mit meinem Sweatshirt dasselbe gemacht. Wir hatten nicht viele Engel gesehen, die sich nährten, was eine Erleichterung war. Die Stadt fühlte sich irgendwie ruhiger an als sonst, und ich wünschte, das hätte auch für meine Gedanken gegolten.
»Ich glaube, du hast mir heute das Leben gerettet«, sagte ich.
»Dann habe ich auch mein Leben gerettet«, meinte er locker. »Also bin ich in Wirklichkeit reichlich selbstsüchtig.«
Er lehnte sich auf den weißen Steinstufen zurück und streckte die Beine aus. Ich sah, wie ihn ein Mädchen, das ungefähr im selben Alter war wie wir, anerkennend musterte, und schlagartig bemerkte ich wieder, wie attraktiv er war, mit seinem mageren festen Körper, den hohen Wangenknochen und dem lockigen Haar.
Und was wäre, wenn du nicht mit mir zusammen wärst? Was dann?
Ich wurde rot und wandte den Blick ab, während ich einen Finger über einen Riss in den abgetretenen Stufen wandern ließ.
Denn jetzt wie damals, als Alex mich gefragt hatte, wusste ich nicht richtig, was ich darauf antworten sollte. Alles, was ich wusste, war, dass ich mich vom ersten Moment an, als ich seine Hand gehalten und seine Präsenz mich schier überwältigt hatte, unglaublich zu ihm hingezogen gefühlt hatte – und jeder Tag, der vergangen war, hatte uns sogar noch näher zusammengebracht. Mittlerweile war er ein derart fundamentaler Bestandteil meines Daseins geworden, dass ich mir ein Leben ohne ihn kaum noch vorstellen konnte. Mir wurde kalt, als ich an meinen Traum dachte und an das Prickeln, das ich letzte Nacht gespürt hatte.
Mein Gott, ich war doch nicht etwa dabei, mich in Seb zu verlieben?
Benommen schüttelte ich die Vorstellung ab. Nein. Nein, denn ich war mit Alex zusammen, und damit hatte es sich. Ich liebte Seb wie einen Freund – das war alles.
Trotzdem hatte sich mein Magen schuldbewusst zusammengezogen. »Wie spät ist es?«, erkundigte ich mich und betete, dass Seb nichts mitbekommen hatte.
Er zog wieder mein Handy hervor. »Kurz nach zwei.«
Immer noch keine SMS. Unsere Augen trafen sich. Sebs Blick war besorgt, doch davon einmal abgesehen, konnte ich nicht feststellen, was er dachte. Eingedenk der Richtung, die meine eigenen Gedanken eingeschlagen hatte, war ich darüber ganz froh.
Und in knapp einer Stunde würde ich Alex treffen. In meine Erwartung mischte sich Angst. Das leere Display meines Handys dröhnte mir lauter in den Ohren als unser Geschrei am vergangenen Abend.
Bald darauf durchquerten Seb und ich den Park und fuhren mit der Metro nach Hause. Ich saß auf dem harten Plastiksitz in dem vollen U-Bahn-Wagen und starrte auf die spanischen Schilder. Nach Hause. Es war das einzige Wort, das treffend beschrieb, wohin wir unterwegs waren … doch in dem Moment fühlte es sich nicht im Mindesten wie ein Zuhause an.
»Okay, hier ist der Plan«, sagte Alex.
Wir waren alle in der Schießanlage und scharten uns um Karas Karte von der Kathedrale. Alex stützte sich mit einer Hand auf den Tisch, sein dunkles Haar hing ihm in die Stirn. Er tippte auf den Altar auf dem Grundriss. »Ungefähr nach der Hälfte des Gottesdienstes wird der Prediger fragen, ob sich jemand von den Engeln segnen lassen möchte. Wahrscheinlich werden nur ein Dutzend Menschen nach vorne gehen. Willow, ich will weder, dass ihr, du und Seb, die Ersten seid, noch dass ihr als Letzte geht. Lasst erst mal ein paar Leute vor.«
Er sah mich an, während er sprach. Seine Stimme war neutral, sachlich. Ganz hinten flackerte in seinen blaugrauen Augen etwas auf doch
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