Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
schulterzuckend, als Emily ihn bat, näher bei ihnen zu bleiben.
„Wir wissen aber nicht, wie weit er genau reicht“, meinte Juno.
„Siehst du“, sagte Emily. „Ich will nicht, dass du…“
„Schsch!“, unterbrach Juno sie in diesem Augenblick. Sie packte ihren Kampfstock fester, machte einen Schritt auf eine dunkle Gasse zu und rief:
„Was wollen Sie? Sie folgen uns schon seit geraumer Zeit.“
Emily wich erschrocken zurück. Was hatte Juno dort gesehen? Auch Emma und Miki drängten sich schutzsuchend in einen Hauseingang, und sogar Finn gesellte sich zu ihnen.
Eine Weile geschah nichts. Dann schob sich eine Frau in zerlumpten Kleidern aus der dunklen Gasse. Sie ging gebeugt und stützte sich auf einen Stock, obwohl sie noch nicht sehr alt war. Ihr Blick huschte von Juno zu den Kindern und zurück.
„Hüter seid ihr, nicht wahr?“, nuschelte sie.
„Ja, das sind wir“, entgegnete Juno mit fester Stimme. „Und Sie werden uns jetzt in Ruhe lassen. Wir sind nur auf dem Weg zum Bahnhof, wir haben Ihnen nichts getan.“
Die Frau richtete sich auf. Obwohl sie zum Gehen einen Stock brauchte, schien sie noch recht kräftig zu sein.
„Nichts getan? Und was ist mit den Irrlichtern?“, stieß sie bitter hervor. Juno runzelte die Stirn.
„Es ist nicht die Schuld der Hüter, dass sie in die Städte vorgedrungen sind“, sagte sie. „Im Gegenteil, wir versuchen sie wieder ins Moor zurückzudrängen. Früher oder später wird uns das auch gelingen.“
„Oh ja, ihr macht es euch leicht, gebt einfach der Gilde und ihren Geistern die Schuld…“, nuschelte die Frau. Wieder huschte ihr Blick zu den Kindern.
„Schweigen Sie endlich!“, unterbrach Juno sie. „Und lassen Sie uns in Ruhe!“
Damit drehte sie sich um und winkte den Kindern. Als sie weitergingen, schaute Emily sich immer wieder um. Die Frau starrte ihnen noch eine Weile nach, dann drehte sie sich um und humpelte in die dunkle Gasse zurück.
Schweigend legten sie den restlichen Weg zum Bahnhof zurück. Juno schien tief in Gedanken versunken zu sein. Sie wartete noch, bis die Kinder in die Bahn gestiegen waren, dann wünschte sie ihnen knapp eine gute Nacht und kehrte in die Ringstadt zurück.
„Was hat die Frau gemeint?“, fragte Emily, als Juno außer Hörweite war. Alle zuckten die Schultern. Diesmal hatte nicht einmal Miki eine Erklärung.
Als sie in Arcanastra aus der Bahn stiegen, schlug Finn auf einmal vor:
„Wir könnten noch schnell in die Katakomben gehen.“
„Jetzt? Um uns zu verirren?“, fragte Miki wenig begeistert.
„Nein, um zum unterirdischen Bestiarium zu gehen. Aurelia hat mir erzählt, dass der Schieferstachler ein Junges gekriegt hat. Das geschieht nur alle hundert Jahre einmal.“
Aurelia arbeitete wie Hannah im Bestiarium.
„Das will ich auch sehen“, sagte Emma begeistert. Emily und Miki schauten sich an. Dann zuckten sie beide die Schultern.
„Also los, ich kenne ganz in der Nähe einen Eingang in die Katakomben“, sagte Finn. Er führte sie zu einem Schuppen in der nächsten Gasse. Dort schob er ein Fass zur Seite und öffnete die Bodenluke darunter. Ein gähnendes schwarzes Loch öffnete sich.
„Gemütlich“, murmelte Miki, doch auch er folgte Finn die Stufen hinunter in die Katakomben.
„Ich find’s einfach unheimlich hier unten“, sagte Emily und ihre Stimme hallte hohl durch das Labyrinth. „Kennst du den Weg genau?“
Finn lachte. „Ich war schon hundert Mal hier unten.“
Er schien sich tatsächlich gut auszukennen, jedenfalls zögerte er bei keiner einzigen Abzweigung. Trotzdem fühlte Emily sich unbehaglich. Ihre Schritte hallten durch die weiten Gänge, und ein eisiger Luftzug ließ sie schlottern.
„Wirklich kalt hier unten“, murmelte irgendwann sogar Emma düster.
Mittlerweile war bei Emily jede Spur von Müdigkeit verschwunden. Das Tröpfeln der unsichtbaren Rinnsale, das geisterhafte Hallen ihrer Schritte und die Stille, die ansonsten herrschte, machten sie immer nervöser. Sie hoffte, dass es bis zum Bestiarium nicht mehr weit war. Gerade bogen sie um eine weitere Ecke, als die vier Kinder wie erstarrt stehen blieben.
Vor ihnen stand der Geist.
Das war jedenfalls Emilys erster Gedanke, denn das Wesen trug einen langen, dunklen Umhang, dessen Kapuze es sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Einen Moment lang rührte sich keiner. Auch der Geist schien überrascht darüber, jemanden zu treffen. Dann machte er einen Schritt auf die Kinder zu. Hastig stolperte Emily
Weitere Kostenlose Bücher