Huff, Tanya
geblendet hätte. Der Mann hatte Schutz; nicht nur seine persönliche Stärke, sondern auch eine starke Bindung an
den Gott, der die alten Wege damals vernichtet hatte. Die Stärke
allein, die Bindung an sich hätte bereits ausgereicht, ihm zu verwehren, was er so heiß begehrte: Beides
zusammen stellte ein fast unüberwindliches Hindernis dar.
Dennoch werde ich dieses Ka haben, ich muß es haben!
Er streifte
die Gedanken seines Gegenübers nur am Rande, wobei er sich selbst in ihnen spüren konnte, aber auch Angst wahrnahm. Beides
war nicht dazu angetan, ihm Zutritt zum Bewußtsein des anderen zu verschaffen, wohl aber, sich daran
vorbeizuschmuggeln. Er forschte nach weiteren Schwächen, sah aber nur den Glanz
unbe grenzter Möglichkeiten.
„Was bist du?"
Henrys Schultermuskeln hatten sich schmerzhaft verspannt, er hatte die Fäuste so fest geballt, daß die Nägel Halbmonde in die Handflächen bohrten - er sah keinen Grund, die Frage nicht zu beantworten. Er hob seine Stimme gerade soweit, daß sie die Entfernung
zwischen ihm und dem Gegner überbrücken konnte, nicht aber darüber hinaus
hörbar sein würde, und warf wie einen Fehde handschuh hin:
„Ich bin Vampir."
Die Ka, die er zu sich genommen hatte, seit er erwacht war, lieferten
ihm eine verwirrende Vielzahl an Bildern, von denen nur wenige viel mit dem
jungen Mann, der ihm da gegenüberstand, zu tun haben schienen. Er durchforstete all die Informationen, bis er erkannte, womit er es hier zu tun hatte. Sein Volk hatte diese Wesen bei einem anderen Namen genannt.
Kein Wunder, daß das Ka des jungen Mannes so hell erstrahlte. Solange die
Nachtwandler sich am Blut Lebender labten, waren sie unsterblich wie er. Loderte denn auch sein Ka wie ein Sonnenstrahl? Schade,
daß er dies nie wissen würde: Sein Ka war das einzige, das er nicht sehen konnte.
Welche Macht würde ihm zufallen, wenn er sich am Ka eines unsterblichen
Wesens nährte! Dann könnte er aufhören, mit armse ligem menschlichem Werkzeug zu arbeiten, würde von Anfang an im eigenen Namen herrschen können!
Vielleicht...
vielleicht läge dann sogar ein Sitz im Rat der Götter nicht außerhalb seiner
Reichweite! Er sah sich von Ruhm und Glo rie
umgeben, nicht mehr Diener einer minderen Gottheit, sondern selbst ein Gott! So berauschend dieser Gedanke
auch sein mochte: Er begrub ihn rasch
tief in seinem Innern. Es ging nicht an, daß Akhekh ihn erspähte.
Aber ein unsterbliches Ka zu verschlingen ... er war von dem verbleibenden
Leben des Mannes so geblendet gewesen, daß er auf das bereits gelebte Leben gar nicht geachtet hatte, daß ihm noch nicht einmal aufgefallen war, wieviel länger dies
bereits dauerte als gewöhnlich bei einem Menschen. Er selbst, stellte er
jetzt fest, war um einige Jahrhunderte
älter als sein Gegenüber, auch wenn man die Jahrtausende abzog, die er
begraben gewesen war. Und doch würde er vorsichtig vorgehen müssen. Wollte er
irgendwann einmal in der Lage sein, sich zu
nähren, dann mußte er erst einmal den Schutz des Nachtwandlers ausschalten. Zwar durchwob Angst diesen Schutzwall an
vielen Stellen, aber trotzdem fehlte ihm die Kraft, ihn zu zerschlagen.
Warum fürchtest du mich, Nachtwandler?
Er durfte das nicht direkt fragen, wenn er später mit der Angst des anderen arbeiten wollte. Also fragte er etwas anderes.
„Warum hast
du mich gesucht, Nachtwandler?"
Ja, warum?
„Du jagst in meinem Revier."
In dieser
Aussage lag soviel, daß sich zahlreiche Motive dahinter verbergen konnten. Außerdem stimmte der Satz, wie Henry feststell te, als er ihn ausgesprochen hatte.
Wieder versuchte er, das Ka des anderen zu lesen, weiter als bis zur Oberfläche vorzudringen, aber er kam auch diesmal nicht durch.
„Ich würde gern mit dir reden. Sollen wir ein Stück zusammen gehen?"
Henry wollte ablehnen; er war hin- und hergerissen zwischen dem
Bedürfnis, einfach wegzurennen und der Begierde, den Schlund dieser Kreatur zu
zerfetzten und einen tiefen Zug von dem Blut zu neh men, das er unter der glatten Haut am Halse pochen hörte. Ersteres würde ihn
einer Lösung nicht näherbringen. Letzteres ... nun, selbst wenn es ihm gelänge, all die Verteidigungswälle
niederzureißen, die Zauberer stets mit sich trugen - und er bezweifelte, daß
das möglich sein würde -, stand er
hier an einem Sonntag abend auf einer der geschäftigsten Kreuzungen
Torontos, und ein blutiger Mord vor den Augen
von hunderten von Zeugen wäre zwar an sich eine Lösung des Problems, aber
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