Huff, Tanya
konnte die Angst riechen, sobald Tony die Wohnung betre ten hatte, und als sich der Junge ihm in die Arme warf, wurde der
Gestank fast überwältigend. Er hielt seinen Hunger, der aufgestie gen war, als
sich ihm ein Körper so verletzlich präsentierte, fest im Griff, schob seine
eigene Angst beiseite und hielt den jungen Mann schweigend im Arm, bis er fühlte, wie sich dessen Muskeln ent spannten
und er aufhörte zu zittern. Als Henry dachte, er könne nun vielleicht
Aufklärung erwarten, schob er Tony sanft eine Armlänge von sich und fragte: „Was hast du?"
Tony fuhr
sich mit dem Handrücken über die feuchten Wimpern, zu verängstigt, um verbergen
zu wollen, daß er geweint hatte. Die Haut um
seine Augen herum wirkte fleckig, und er mußte einige Male tief Atem
holen, eher er in der Lage war, zu sprechen.
„Ich habe gesehen, heute nachmittag, ein Baby ... er hat einfach
..." Ein Schauder rann über seinen ganzen Körper;
in Henrys Gegenwart durfte er sich endlich gehenlassen. „Jetzt...
ich meine: Ich habe ge sehen, wie er das Baby umgebracht hat!"
Bei der Vorstellung, jemand könnte einem der Seinen etwas antun, preßte Henry die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Er drängte Tony,
der keinen Widerstand leistete, zum Sofa und schob ihn sanft in die Kissen. „Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas ge schieht", sagte er so bestimmt, daß Tony ihm
einfach glauben mußte. „Erzähl mir,
was geschah. Von Anfang an."
Während Tony
sprach, langsam zuerst, dann immer schneller, als liefe er mit seiner Angst um die Wette, um als erster am Ende der Geschichte
anzukommen, mußte Henry sich abwenden. Er trat zum Fenster, legte eine Hand gegen das kühle Glas und blickte auf die Stadt hinunter. Er kannte diesen dunkelhaarigen,
dunkeläugigen Mann.
„Er bringt
Kinder um", hatte Vicki ihm gesagt.
„Er wird mich holen kommen!" weinte Tony.
„Weil es außer uns niemanden gibt." Selbst Celluci hatte eine Stimme in Henrys Kopf.
„Ich spüre die Sonne. Es sind noch Stunden bis zum Morgengrau en, aber ich spüre die Sonne."
„Henry."
Langsam drehte er sich um. „Ich gehe dorthin, wo du ihn zuletzt sahst und versuche, seine Witterung aufzunehmen." Er zweifelte
nicht daran, daß er den Geruch wiedererkennen, ihn aus den hund erten von Gerüchen würde herauspicken können, die an sich die sem Novembernachmittag auf dem Zement des Bürgersteigs ausbrei teten. Wenn er den Schlupfwinkel der Kreatur gefunden hatte, was dann?
Das wußte er nicht. Er wollte es auch gar nicht wissen.
Tony seufzte. Er hatte gewußt, daß Henry ihn nicht im Stich lassen würde. „Kann ich hierbleiben? Bis du zurückkommst?"
Henry nickte und wiederholte: „Bis ich zurückkomme", als sei das ein Mantra, das sicherstellte, daß er auch wirklich zurückkommen würde.
„Mußt du, mußt du dich nähren, ehe du gehst?"
Er glaubte nicht, daß ihm das möglich sein würde; nein, kein Näh ren, nein ... „Nein, aber vielen Dank für das Angebot."
Tony schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, brachte ein schwaches
Lächeln zustande und etwas, das wie ein Achselzucken wirken sollte. „Es ist ja nun nicht so, daß ich etwas dagegen hätte oder so."
Henry mochte hinter diesem jungen Sterblichen nicht zurückstehen und
lächelte nun seinerseits. „Das ist schön."
Beim Klingeln des Telefons fuhren beider Köpfe herum, und in ih ren Gesichtern
stand ein fast identischer Ausdruck der Panik. Henry schob rasch eine Maske davor, und als Tony sich ihm zuwandte, um zu
fragen: „Soll ich drangehen?", schien der Vampir sich wieder im Griff
zu haben und antwortete ruhig: „Nein, ich werde abnehmen."
Er hatte den Hörer schon in der Hand, bevor das zweite Klin gelzeichen noch ganz verklungen war - in der kurzen Zeitspanne, die zwischen
einem Herzschlag und dem nächsten lag, war er vom Fenster weg ans Telefon getreten. Fast ebensolange brauchte er, um
seine Stimme zu finden.
„Hallo? Henry?"
Vicki. Ihr Tonfall war eindeutig: Sie schwankte zwischen Besorgnis und Verärgerung. Er wußte nicht, was er eigentlich erwartet hatte. Nein,
das stimmte nicht - er wußte genau, was er erwartet hatte, er wußte nur nicht, warum. Wenn Anwar Tawfik beschloß, mit ihm
Kontakt
aufzunehmen, dann würde er sich dafür bestimmt nicht des Telefons bedienen!
„Henry?"
„Vicki. Hallo."
„Ist was?" Die Worte hatten einen professionellen Beiklang, so, als wisse sie bereits, daß etwas nicht stimmte und er könne es ihr ebensogut gleich
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