Huff, Tanya
sanft an dem uralten Leinen, und Dr. Shane be feuchtete das Ende vorsichtig mit einem in Lösungsmittel getränkten Wattebausch.
„Es ist erstaunlich, wie wenig der Stoff in all den Jahrhunderten verwest ist", stellte sie fest. „Wenn ich eine Bluse zweimal in die
Rei nigung gebe, fängt sie schon an, auseinanderzufallen ..."
Ihre Hand, die den Wattebausch hielt, zuckte
zurück.
„Was ist?"
„Als ich die Brust eben berührte, fühlte sie sich warm an." Sie lachte ein wenig ängstlich auf - wie lächerlich sich das anhörte. „Selbst durch den Handschuh hindurch."
Rax schnaubte
verächtlich. „Wahrscheinlich die Hitze der Strah ler."
„Das sind Neonröhren."
„Nun gut,
dann ein Nebenprodukt des langsamen und fortgesetz ten Verwesungsprozesses."
„Das ich durch die Umhüllung und die Handschuhe hindurch spüre?"
„Was halten Sie von reiner Einbildung, verursacht durch fehlgelei tete
Schuldgefühle dem Hausmeister gegenüber?"
Sie brachte ein halbes Lächeln zustande. „Ich glaube, das kann ich gelten
lassen."
„Gut - können wir dann also weitermachen?"
Dr. Shane bemühte sich, den Körper nicht zu berühren und trug noch ein wenig Lösungsmittel auf. „Das ist die verdammt noch mal merkwürdigste Leichenausstattung, die ich je gesehen habe", murmelte
sie. „Keine Symbole für Osiris, keine Schutzgöttinnen, kein Ded, kein
Thet, nirgends Hieroglyphen außer auf diesem einen Lei nenstreifen." Sie runzelte die Stirn. „Sollten wir nicht eigentlich
...
sollten wir den Streifen nicht eigentlich untersuchen, ehe wir ihn
entfernen?"
„Das wird einfacher sein, wenn er erst einmal entfernt ist." „Ja, aber ..." Aber was? Irgendwie konnte sie den Gedanken nicht
zu Ende bringen. Plötzlich lächelte Rax. „Treten sie zurück, ich löse
ihn ab."
Er fühlte, wie sich das Ende des Leinens löste, jede einzelne Hie roglyphe wie ein Stein, der von seiner Brust gehoben wurde. Der Bannfluch
dehnte sich und brach Stück für Stück. Dann riß er mit einem unhörbaren Schrei, der durch Knochen und Blut und Sehnen drang, entzwei.
Er hieß den Schmerz willkommen. Das erste Mal in dreitausend Jahren, daß
er ein körperliches Gefühl verspürte, und von daher war es eine freudige Pein.
Alles hat seinen Preis, und für seine Freiheit war kein Preis zu hoch. Wäre er in der Lage gewesen, seine Gliedma ßen zu bewegen, dann wäre er zusammengezuckt,
aber Bewegungsfähigkeit würde sich erst langsam und mit der Zeit wieder
einstellen, und so konnte er die roten Wellen, die seinen Leib in ganzer
Länge durchdrangen und alles andere vor sich
hertrieben, alles andere unter sich
begruben, einfach nur ertragen. Er wünschte sich nur, er hätte schreien können.
Endlich ebbte die letzte Welle ab und hinterließ in seinem Fleisch ein Brennen und Stechen wie von Nesseln - und in der Finsternis das Glühen
von zwei roten Augen.
Herr? Er hätte wissen müssen, daß sein Gott auch überlebt hatte, wenn er selbst hatte überleben können.
Die Augen wurden heller, bis sein Ka in ihrem Licht den vogelglei chen Kopf seines Gottes sehen konnte.
Die anderen
sind tot, sagte der Kopf.
Das bestätigte nur, was er durch den Geschmack des Ka des Arbei ters bereits erfahren hatte.
Es gibt Götter, aber es sind nicht die, die wir kannten. Der Schna bel des Gottes war nicht dazu angetan, damit zu lächeln, aber der
Vogelkopf legte
sich zur Seite, und er erinnerte sich daran, daß der Gott damit Freude zu
erkennen gab. Ich habe klug gehandelt, als ich dich erschuf; durch dich überlebte ich. Die neuen Götter waren einst stark,
aber jetzt sind sie es nicht mehr. Nur wenige Seelen haben ih nen die Treue geschworen. Errichte einen Tempel,
sammle Gehilfen für mich, bis ich stark genug bin, weitere wie dich zu
erschaffen. Mit dieser Welt können wir tun, was wir wollen.
Dann war er wieder allein in der Finsternis.
Nichts hielt ihn mehr, außer jahrtausendealtem Stoff, der unter dem Druck der
schnell voranschreitenden Zeit zu verrotten begann. Aber er würde noch eine Weile bleiben, wo er war. Sein Ka hatte noch
eine Reise hinter sich zu bringen, dann würde er seine Kraft zusammennehmen und ihm gegenübertreten - seinem
Erretter.
Errichte einen Tempel. Sammle Gehilfen. Mit dieser Welt können wir tun,
was wir wollen. Genau. Über den Moment seiner Befreiung hinaus hatte er bislang
noch keine Pläne gemacht, aber es schien, als gäbe es viel zu tun.
Rachel Shane verließ den Lift im Erdgeschoß. Auf den Fliesen der Eingangshalle
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