Huff, Tanya
„kann ich ja schon mal
anfangen. Mal sehen, was sich hier
finden läßt."
Henry stand
einen Moment lang schweigend im Dunkeln und sah Vicki bei der Arbeit zu. Dank der Notlichter war der Flur nicht ganz dunkel, sondern lag im Dämmerlicht, aber er wußte,
daß das für Vic ki ein und dasselbe war. Sie konnte das Schloß, das sich
nur wenige Zentimeter von ihrer Nase entfernt befand, ebensowenig sehen wie ihn, aber die Bewegungen, mit denen sie im
Schließmechanismus herumstocherte,
waren ruhig und gezielt. Geräuschlos schlich Henry näher an Vicki heran und mußte lächeln, als er
sah, daß sie die Au gen fest
geschlossen hielt.
„Gut gemacht", sagte er leise, als das Schloß mit einem Laut, den nur er hören konnte, aufsprang.
Vickis Herz
pochte laut und erregt, und sie mußte sich sehr zusammenreißen, um nicht
aufzuspringen und sich dem Freund zuzuwenden. .Vielen Dank, Henry",
murmelte sie fast unhörbar, denn er würde
sie ja auf jeden Fall verstehen, ganz gleich, wie leise sie sprach. „Das
hat mich gerade sechs Jahre meines Lebens gekostet, und fast hätte ich mir in die Hose gemacht." Sie
stützte sich mit einer Hand am
Türrahmen ab, um die Orientierung nicht zu verlieren, und stand auf.
„Wenn wir jetzt also hier aus dem Flur abhauen könnten, ehe jemand vorbeikommt..."
Er langte an
ihr vorbei, drückte den Türgriff herunter und öffnete einen Flügel der Doppeltür einen Spalt breit. Ehe er sich ihr noch als Führer
anbieten konnte, war Vicki schon durch den schmalen Spalt geschlüpft und hatte den dahinterliegenden Raum
betreten. Henry folgte ihr ein wenig
verwirrt und schloß die Tür hinter sich. „Kannst du denn etwas
sehen?" fragte er.
„Kein Stück!" Vicki spürte immer noch Bitterkeit, was ihre Nacht blindheit betraf, aber jetzt lag ein gewisser Stolz in ihrer Stimme.
„Ich
habe am Luftzug gespürt, wo die Tür offenstand. Mach dich mal nützlich
und such' uns die Lichtschalter. Die Türen schließen fest genug, es wird kein Licht in den Flur dringen. Oder jedenfalls nicht
viel", verbesserte sie sich, als über ihren Köpfen mehrere Leuchtröh ren zu flimmern begannen. Ihre Augen tränten in der plötzlichen Helligkeit, und als sie sich zu Henry umdrehte, sah sie, daß der sich gerade eine dunkle Sonnenbrille aufsetzte.
Sie grinste.
„Du siehst aus wie ein Spion." Der schwarze Ledermantel und die
Sonnenbrille bildeten einen interessanten Gegensatz zu Henrys rotgoldenem Haar und der blassen Haut.
Henrys Brauen schnellten in die Höhe. „Tun wir das nicht auch: spionieren?"
„Nicht wirklich. Wenn sie uns erwischen, ist das hier eher Einbruch."
Henry seufzte: „Na toll. Vicki, warum sind wir hier? Man wird doch alle Beweismittel bereits weggeschafft haben."
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich wollte mir den Tatort an sehen." Sie wischte sich ein letztes Mal über die Augen und sah sich dann im Werkraum um. Dieser war mindestens 25, vielleicht aber auch 30
Quadratmeter groß. Das ließ sich schwer einschätzen, denn die blaßgelben Wände lenkten den Blick des Betrachters eher in die
Höhe. Holzvitrinen in Brusthöhe nahmen aneinandergereiht die eine Hälfte des Raumes ein, die andere wurde
von bis zur Decke reichenden Metallregalen voller Steine, Tongefäße und
Skulpturen beansprucht. Vicki und Henry
waren in dem Teil des Raumes, der eindeutig der Schreibtischarbeit
vorbehalten war: Sie standen neben einem Schreibtisch, der unter seiner
Papierlast zusammenzubrechen drohte; daneben drängten sich Bücher dicht an
dicht auf einigen Bü cherregalen. Links
davon stand vor einem neutralen Hintergrund ein Stativ mit einer Kamera,
rechts zog sich eine kleine Küche - Kühl schrank,
Tresen, Küchenschrank und Waschbecken - an der Wand entlang. Eine
zitronengelbe Tür direkt hinter dem Tresen führte zur Dunkelkammer. Zwischen Schreibtisch und Holzvitrinen standen auf dem einzig nennenswerten freien Flecken zwei
gepolsterte Sä geböcke, und darauf
ruhte der Sarg. Sein Deckel lag auf der Vitrine daneben. „Außerdem
wollte ich auch, daß du dir das hier ansiehst", sagte Vicki.
Henry seufzte erneut. Er war ja gern bereit zu helfen, sah aber noch nicht, wie dieser... Ausflug zu irgend etwas gut sein sollte. „Bist du denn sicher,
daß dies der richtige Sarg ist?"
Vicki besah
sich das Artefakt und verzog den Mund. Selbst ohne Cellucis Beschreibung wäre sie in der Lage gewesen, es zu identifizie ren - ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie
versuchte, das Gefühl, das
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