iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
Inhalt war es nicht mehr. Unsere Hoffnung fiel wie ein Kartenhaus zusammen. Das prickelnde Glücksgefühl wechselte nach einer Schrecksekunde in bodenlose Enttäuschung. Die wenigen, tatsächlich zurückgekehrten Teile, inmitten all des Krempels, milderten unseren Frust nur wenig. Keines unserer fehlenden Lieblingsstücke hatte zu uns zurückgefunden.
Wir verbuchten den Einbruch also notgedrungen als »neue (Lebens-) Erfahrungen«. Unsere deutschen Sachen mochten in der kanadischen Weite verschwunden sein, aber Oma Ilse und ihre Tochter Yvonne hatten wir durch den Einbruch gefunden.
Weitere Tage in unserer kleinen Wohngemeinschaft verstrichen, ohne dass sie von uns gezählt wurden. An einem sonnigen Frühlingstag, nachdem wir bereits drei Wochen bei Ilse wohnten, machten Ilse, Birte und ich einen Ausflug mit unserem Camper.
Die acht Zylinder des Trucks hämmerten rhythmisch vor sich hin. Ilse schmiegte sich, eingebettet in unzählige Kissen, an Birte, die sie zuvor auf den Arm genommen und federleicht in den hohen Wagen gehoben hatte. Ilse genoss unsere Fahrt sichtlich. Es weckte in ihr das Gefühl, wieder in ihrer Kindheit auf dem Bauernhof in Norddeutschland zu sein. »Ich fühle mich wie in einem Trecker. Als ich Kind war, durfte ich dort immer mitfahren.«
Es dämmerte bereits, als wir hungrig nach unserem langen Ausflug in der Natur in ein thailändisches Restaurant zum Essen gingen. So weltoffen Ilse im Kopf war, so experimentierfreudig war sie auch in Bezug auf die Kochkünste fremder Länder.
Wir betraten das Restaurant. Mit einer ergreifenden Mühe erklomm Ilse die Sitzbank. Sie schaute in Gedanken versunken auf die Holzstäbchen auf unserem Tisch. Ihre vorherige Freude über unser gemeinsames Abendessen wich einer stillen Konzentration. Ilse saß neben uns und sprach kein Wort.
Stattdessen schaute sie immer wieder zu einem Nachbartisch, an dem tibetische Mönche saßen. Ihre kahl geschorenen Köpfe schauten ebenso wie ihre nackten Arme aus langen rot-orangen Gewändern hervor. Eine traurige Ruhe lag über diesen Männern, die sich flüsternd unterhielten. Über welches Thema sie sprachen, konnten wir nur vermuten: Einige mutige Tibeter hatten den Fokus der ausländischen Medien wenige Monate vor den Olympischen Spielen in China für sich nutzen wollen. Ihre öffentlichen Proteste für Unabhängigkeit, die Rückkehr ihres Gottkönigs und die Einhaltung der Menschenrechte hatten mit Verhaftungen, Folter und Mord geendet. In dem friedvollen Tibet, auf dem »Dach der Welt«, war auch das Blut von Mönchen geflossen.
Plötzlich berührte Ilse Birte am Arm. »Entschuldige. Könntest du mich bitte wieder aufstehen lassen?«, fragte sie höflich mit ernstem Gesichtsausdruck. »Ich muss etwas tun«, sagte sie und schaute dabei an den Tisch der Tibeter. Sie mühte sich schmerzhaft wieder aus der Sitzbank heraus.
Langsam ging sie in ihrer gebeugten Haltung zum gegenüber liegenden Tisch. »Entschuldigen Sie bitte meine Störung«, sprach sie im ruhigen Ton und versuchte ihren krummen Rücken ein wenig zu strecken und an Größe zu gewinnen.
Die Mönche stellten ihre Reisschalen vor sich auf den Tisch und schauten sie an.
»Ich möchte ihnen unser großes Mitgefühl für ihr Volk aussprechen.«
Die sieben Tibeter standen stellvertretend für ihr Sechs-Millionen-Volk von den Stühlen auf. Ihre langen Mönchsgewänder fielen in sanften Wellen auf den Boden. Das leise Rascheln des Stoffes war der einzige Laut, der sie umgab. Sie legten ihre Hände mit den Handflächen aneinander, die Fingerspitzen dem Himmel entgegen und verbeugten sich vor dieser unbekannten Frau. Ilse, die ihnen körperlich nur bis zur Brust reichte, aber menschlich eine so unbeschreibliche Größe offenbarte, tat es ihnen nach. Sie standen sich schweigend gegenüber und zeigten sich gegenseitig ihr Mitgefühl, aber auch ihre Wertschätzung. Sie verbeugten sich tief voreinander, immer wieder.
Plötzlich drehten sich alle Mönche zu unserem Tisch um, lächelten Birte und mir zu und verbeugten sich auch vor uns.
Ich war bereits emotional so berührt, dass mir Tränen in die Augen schossen. Wir standen ebenfalls auf und erhoben unsere aneinander gelegten Hände. Ich schloss meine Augen und verbeugte mich vor den tibetischen Mönchen, aber vor allem vor Ilse.
Ilse kehrte wenige Sekunden später zu unserem Tisch zurück. Sie sah erlöst und gestärkt aus. Ihre Augen funkelten zufrieden. »Das musste ich unbedingt sagen. Manchmal sollte man
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