Icarus
jemand gestorben, den ich kenne. Er ist von einem Dach gestürzt«, und der Typ hatte erwidert: »Ja? Erzähl mal!«, aber sie wußte, daß er eigentlich nichts darüber hören wollte. Er hatte bloß angenommen, sie wäre jetzt besonders verletzlich, und er könnte das für sich ausnutzen, daher schüttelte sie den Kopf und sagte nichts mehr.
Gegen eins kam Kids Freund herein. Es war der, den sie immer dort sah und mit dem sie sich manchmal unterhielt und dessen Namen sie sich nie merken konnte. Kids Schatten. Sie beobachtete ihn, während er an der Bar stand und ein Bier trank, und sie dachte, daß sie noch nie jemanden gesehen hatte, der so traurig war. Jemand mußte auch ihm Bescheid gesagt haben. Er war wie ein armer, zutraulicher junger Hund, der von einem Auto überfahren worden war und nun nichts anderes tun konnte, als zu jaulen und darauf zu warten, daß jemand kam und ihm half.
Sie dachte, daß vielleicht sie ihm helfen sollte, aber dann dachte sie, was fällt mir ein? Das war das letzte, was sie gebrauchen konnte. Wirklich und wahrhaftig das letzte.
Sie sah zu ihm hinüber. Sie fragte sich, ob er über sie und Kid Bescheid wußte. Sie hatte die beiden schon zusammen gesehen, hatte aber keinen Schimmer, worüber Kid mit ihm redete. Vielleicht hatte er keine Ahnung. Vielleicht wäre es ganz okay, sich mit ihm zu unterhalten. Sie wußte, daß er nett war, aber ihr war auch klar, wenn sie mit ihm redete, würde eins zum anderen führen. Er würde zu ihr kommen und sie berühren wollen, und sie würde es ihm wahrscheinlich gestatten. Aber dann käme er vielleicht auf die Idee, daß das zu einer regelmäßigen Angelegenheit werden könne. Dabei dürfte es noch nicht einmal gelegentlich passieren. Okay, er war nett und sah wirklich gut aus, und sein Körper schien phantastisch zu sein. Aber er hatte kein Geld, das war klar. Außerdem hatte er diese Ausstrahlung, diesen harmlos-hilflosen Blick, und das letzte, was sie die ganze Zeit bei sich haben wollte, war ein junger Hund – ein armer junger Hund –, der um ihre Füße herumstrich und wollte, daß sie sich um ihn kümmerte.
Er hob den Kopf und sah, daß sie ihn beobachtete, und er lächelte sie an, es war ein furchtbar trauriges Lächeln, aber sie wandte sich ab, als hätte sie ihn nicht wiedererkannt.
Sie wollte keinen jungen Hund in ihrer Nähe. Erst recht keinen, der Kid gekannt hatte.
Ihr wurde bewußt, daß sie kaum an Kid gedacht hatte. Das war seltsam. Sie überlegte, was ihr Psychologieprofessor wohl dazu sagen würde. Sie dachte, daß sie ihn vielleicht fragen würde, aber dann wurde ihr klar, daß sie nicht mit ihrem Psychologieprofessor über Kid reden sollte. Das wäre wirklich und wahrhaftig dumm. Obgleich … je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr der Gedanke. Sie sah sich, wie sie ihm erzählte, sie hätte Kid gekannt, und nun wäre er tot, und schilderte, wie er gestorben war, und daß sie überhaupt nicht an ihn dachte, und war das nicht sonderbar?
Sie glaubte nicht richtig an den Himmel, aber sie dachte, daß sicherlich die winzige Chance bestand, daß Kid irgendwo da oben war, hinunterblickte und verfolgte, wie sie mit dem Professor mittleren Alters sprach, von dem sie wußte, daß er total scharf war auf sie und wahrscheinlich nächtelang wach im Bett lag und sich ausmalte, wie sie nackt aussah. Kid würde hinunterschauen und das sehen und hören, wie er gestorben war und daß es ihr eigentlich gleichgültig war.
Sie lächelte bei der Vorstellung.
Sie lächelte wirklich und wahrhaftig.
Es würde ihn ein zweites Mal töten, dachte sie. Es verdad. Das würde es wirklich und wahrhaftig.
D ER T ODESENGEL
Sie glaubte nicht, daß jemand sie gesehen hatte.
Nun ja, sicher, Leute hatten sie gesehen, sie war ja schließlich nicht unsichtbar. Aber niemand hatte sie wirklich bemerkt. Sie wahrgenommen. Sie beobachtet. Das war es, was sie meinte. In gewisser Weise wollte sie gar nicht wahrgenommen werden. Nicht bei alldem, was passiert war.
Sie wußte, daß sie sich nicht mit ihm hätte treffen sollen. Verdammter Kid mit seinem Wuschelhaar und diesem hinterhältigen Grinsen. Warum hatte sie nicht wegbleiben können? Es war ihr so gut gegangen. Sie war auf ihrem Weg gewesen. Und sie war so … so … so verdammt kultiviert gewesen. Sie verfluchte ihn dafür, daß er zu ihr gekommen war, sie gebeten hatte, sich mit ihm zu treffen, ihr all die Dinge erzählte hatte, die sie sich hatte anhören müssen.
Nur weil er über
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