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Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)

Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)

Titel: Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rajesh Parameswaran
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Familie meiner Braut. Hinter mir ging jener Schwiegeronkel, der mein offizieller Vorgesetzter in Madras war, und neben ihm meine zukünftigen Brüder und Cousins – ein feierlicher Umzug mit mir als glänzendem Mittelpunkt.
    Wann genau merkte ich, dass etwas nicht stimmte? Im Nachhinein fällt mir auf, dass auf der Straße eine seltsame Unruhe herrschte, ein aufgeregtes Stimmengewirr, aber zu jener Zeit nahm ich natürlich an, diese Aufregung gelte meiner Anwesenheit.
    Als zu unserer Linken der Bahnhof in Sicht kam, bemerkte ich auf dem Bahnsteig eine Menschenmenge, was für diese späte Tageszeit ungewöhnlich war – was hatten sie alle dort zu suchen? Seltsamerweise sah ich erst dann das Offensichtliche, den Elefanten am Horizont sozusagen: Auf den Schienen stand tuckernd die riesige Madras Mail , eine volle Stunde nach der planmäßigen Abfahrtszeit!
    »Was ist da los?«, fragte mich mein neuer Onkel erstaunt.
    Ich setzte zu kläglichen und sinnlosen Erklärungen an und überlegte währenddessen fieberhaft, was dort vor sich gehen könnte. Durch die Menge sah ich Dhanu und rief ihn, und er kam auf mich zugerannt, vor Aufregung in Tränen aufgelöst.
    »Ich habe die grüne Fahne gehoben, Sir. Ich habe die Schienen frei gemacht.«
    »Sag schon, was ist passiert?« Ich packte ihn am Arm und schüttelte ihn, damit er sich beruhigte. »Warum steht der Zug dort? Was hast du getan? Wohin schauen die Menschen dort alle?«
    Wir gingen jetzt zum Bahnsteig, wobei wir den gesamten Verlobungszug umlenkten, und drängten uns um die Schar der Gaffer, die sich nur kurz zu uns umdrehten, so fasziniert waren sie von dem, was sich neben dem Zug abspielte. Und dann bestätigte mir Dhananjayan, was ich erst jetzt mit eigenen Augen sah.
    »Das war R., mein Herr!«, sagte Dhanu. »R. war das, R. hat das gemacht!«
    Nun – R. tat, was er immer getan hatte: Er schrieb. Wie es aussah, hatte er sich ein Stück Kalkstein aus der Wand des Nebengebäudes herausgebrochen und bekritzelte damit wie mit Kreide die graubraunen Bahnhofswände. Die Türen, die Fensterscheiben, ja sogar der Bahnsteig selbst war von seinem widerlichen Gekrakel bedeckt. Da ihm am Gebäude der Platz ausging, schrieb er jetzt auf dem dicken Stamm eines Niembaums und sogar auf dem unbefestigten Boden weiter, und bald würde er den Zug selbst bekritzeln. Wir hatten ihm Feder und Papier versagt, und nun machte er sich die ganze Welt zur Leinwand.
    Dieselben obskuren Schnörkel, die nur ich zu Gesicht bekommen hatte, entstanden nun in aller Öffentlichkeit, groß und breit vor jedermanns Augen. Es schien, als wäre alles Schreckliche und Intime ans Licht gezerrt worden, wo es eindrucksvoll sein Grauen offenbarte.
    Passagiere waren aus dem Zug gestiegen, um dem Spektakel rauchend und plaudernd beizuwohnen und über unseren Dorftrottel der besonderen Art zu lachen. Den flehenden Bitten des armen Dhananjayan, sie mögen wieder einsteigen, schenkten die Bummelanten keine Beachtung. Sogar der Lokführer lehnte sich aus seinem Fenster. Kopfschüttelnd betrachtete er die Schriftzeichen und sagte zu den Versammelten: »Ein Gelehrter muss er sein, dieser Bursche, dass er so viele interessante Dinge schreiben kann. Ich selbst habe nie Sanskrit gelernt.« Als Erwiderung fauchte einer der Zuhörer: »Sanskrit – das ist doch lächerlich! Dieser Kerl kommt ganz eindeutig aus Kalkutta und schreibt auf Bengali. Eine äußerst hässliche Sprache, wie Sie sehen. Mein Onkel war einmal in Kalkutta, ich muss es wohl wissen.« Ein anderer lachte daraufhin. »Sie spinnen doch beide. Die Briten haben Verschönerungen in all unseren Bahnhöfen angeordnet. Haben Sie etwa nicht davon gehört? Dieser Mann ist ein simpler Anstreicher, er malt im britischen Stil.« Und aus meiner eigenen Verlobungsgesellschaft kam die Entgegnung: »Anstreicher? ›Vandale‹ trifft es wohl eher. Wenn er kein Brahmane wäre, müsste man ihm ein paar hinter die Ohren geben.«
    R., der von all dem Aufsehen nichts mitbekam, sprang bald hierhin, bald dorthin. Er hatte seinen Vaishti hochgeschnürt, um sich besser bewegen zu können, und als er sich jetzt abwechselnd hinhockte und aufstand und schrieb und schrieb, rutschte das Kleidungsstück immer weiter auseinander und herunter. Das war er also, für jedermann sichtbar, der hervorragend qualifizierte Bursche, den ich als meinen persönlichen Sekretär eingestellt hatte! Einige Fahrgäste konnten ihre Erheiterung nicht zurückhalten: Das schreckliche, willkürliche

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