Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
sah mein ganzes Leben aus der Welt des Klaren und Lesbaren in eine Welt voll hässlicher Wirrnis abrutschen. Alles schien wie umgekrempelt; die falsche Seite war nach außen gekehrt. In jenen Tagen, in denen ich im Kopf fieberhaft die Etappen durchging, die zu meiner misslichen Lage geführt hatten, erste Warnzeichen auszumachen versuchte und überlegte, wie ich das Ganze hätte verhindern können, trat mir immer wieder eine Szene vor Augen: Ich saß selbstgefällig an meinem Schreibtisch, diktierte einen bedachten und wortgewandten Brief, und R. schrieb pflichtgetreu; dann reichte er mir wortlos eine Seite, die keinerlei Ähnlichkeit mit meinen Worten aufwies, die absolut nicht dem entsprach, was ich erwartet hatte.
Es kam mir zunehmend vor, als sei dieser Brief voller unheimlicher Vorzeichen gewesen; jene bizarren Krakeleien wirkten wie Entsprechungen meines inneren Aufruhrs, meiner Leere und meiner fehlenden Kraft. Die unleserlichen Zeichen auf dem Blatt kündeten von einer Rätselhaftigkeit in mir und überall um mich herum, deutlich sichtbar und doch nicht zu entschlüsseln. Ich fühlte mich sehr allein, und auch dieses Bild meiner Einsamkeit verbarg sich in R.s unleserlichen Schriftzeichen.
Und jetzt – welche Ironie – war mir womöglich ein ähnliches Schicksal bestimmt wie das von R. Ich fragte mich, wie es ihm wohl ergangen war, seit ich ihn öffentlich ausgeschimpft hatte, seit unserer gleichzeitigen Demütigung. Was war aus seiner armen Mutter geworden, was aus der Hochzeit, von der er gesprochen hatte? War seine Familie in die Armut abgerutscht? Saß er jetzt meinetwegen auf der Straße und musste betteln?
An manchen Nachmittagen ertappte ich mich dabei, wie ich durch das brahmanische Viertel spazierte, in dem R. meines Wissens lebte. Ich erkundigte mich bei seinen Nachbarn und fand heraus, in welchem der schlichten Häuser er wohnte, konnte mich aber nicht dazu durchringen, nach ihm zu sehen. Ich fühlte mich zu schuldig. Ich hatte ihn in aller Öffentlichkeit geohrfeigt. Vollkommen zu Recht jedoch! Denn ich war zugleich furchtbar zornig auf ihn – wenn ich mir jene Szene vom Tag meiner Verlobung vor Augen rief, schäumte in mir eine Wut über diese Demütigung auf, die ich nicht ertragen konnte.
Damit du keinen falschen Eindruck bekommst: Ich war wohlüberlegt in meinem Zorn, und es mangelte mir nicht an Erbarmen. Frag nur Dhanu, wenn du glaubst, ich sei nicht fähig zu Zärtlichkeit gewesen. Frag Dhanu, wenn du meinst, ich sei unfähig gewesen zu lieben!
Wenn ich es allerdings recht bedenke – frage Dhanu lieber nicht, denn was wusste selbst er schon über mich? Wie sich zeigen wird, wusste auch ich sehr wenig über ihn. Er war schließlich nur ein Junge, wie viel konnte er ertragen? Doch Dhanu sollte seine Rache an R. und mir bekommen, und als es so weit war, an einem Abend kurz nach dem Fiasko an meinem Verlobungstag, kam sie in Form von liebevollen Worten, und er hielt mich dabei sogar in den Armen.
»Ich habe gute Neuigkeiten«, sagte Dhanu mit seiner süßen Stimme zu mir.
»Wirklich, Dhanu? Schön. Dann sag sie mir.«
»Er ist verschwunden. Sie können jetzt ganz beruhigt sein. Er wird Sie nicht mehr belästigen.«
»Wer ist verschwunden, Dhanu?«, fragte ich.
»Herr R. natürlich«, und als sein Name fiel, zogen sich mir die Eingeweide zusammen. »Herr R. Ich dachte, Sie müssten davon gehört haben.«
»Wovon gehört haben?«, fragte ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sich eine böse Vorahnung in mir regte.
»Na, von Herrn R. Davon, wie er abgereist ist.«
» Wie denn, Dhanu?«, fragte ich erneut. Der grausame Dhanu ließ sich jedes Wort aus der Nase ziehen. Nach und nach erfuhr ich schließlich, dass R. am Tag zuvor zum Bahnhof gekommen war und eine Blankofahrkarte gekauft hatte, ohne Rückfahrt. »Sie waren gerade außer Haus, auf einem Ihrer langen Nachmittagsspaziergänge«, ließ Dhanu sich nicht nehmen zu bemerken. »Sonst hätten Sie ihn gesehen.« Ohne ein einziges Gepäckstück und ganz allein war er um 15.38 Uhr wortlos in die Madras Mail gestiegen und verschwunden.
»Verschwunden?«, fragte ich.
»Ja, er ist verschwunden.«
Ich lachte unangenehm berührt. »So, wie du es sagst, klingt es wie ein mystisches Ereignis. Er ist sicher nur irgendwohin gefahren, um Verwandte zu besuchen. Was hat er dir denn gesagt, wo er hinfährt?«
»Nichts hat er gesagt. Stellen Sie sich vor, mein Herr, als er in den Zug stieg, hat er sich aufgelöst, fast wie eine
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