Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
Von einem jener ersten Agenten stammen wahrscheinlich auch die Verhaltensmaßregeln, die sich als äußerst hilfreiche und beständige Kontrollrichtlinien erwiesen haben.
Als ich klein war, hatte ich mir oft ausgemalt, wie es wohl gewesen wäre, einer der ersten zu sein. In meiner Fantasie – das ist jetzt etwas peinlich – war ich mit den beiden Kindern des ersten Agenten befreundet, oder genauer gesagt, mit einem befreundet und mit dem anderen romantisch verbändelt, und beide fragten mich unabhängig voneinander, ob ich der Behörde beitreten möchte. Es war hoch dramatisch, denn ich konnte ja keinem von beiden sagen, dass der bzw. die andere mich ebenfalls anzuwerben versucht hatte. Ich hatte eine ziemlich lebhafte Fantasie als Kind.
Man könnte sagen, dass diese alte Geschichte mein Interesse an der Behörde geweckt hat. Sie ist natürlich nur ein Märchen, aber ein nützliches, zumal die wahre Geschichte der Behörde geheim gehalten wird. Ich habe sie nie gehört. Das Märchen ist nicht ganz passend. Heute gibt es keinen Herrscher mehr, Gott sei Dank; heute gibt es den Exekutivausschuss der Behörde. Die Agenten arbeiten nicht mehr für irgendeinen mächtigen Stadtregenten, sondern für das Volk, direkt für das Volk – mit Vermittlung durch die Behörde. Man könnte sagen, der eine ist des anderen Agent. Auf jeden Fall jedoch war es die Geschichte, die mein Interesse daran geweckt hat, als Agentin zu dienen.
Wie der Behörde bekannt ist, hatte ich selbst bisher noch nicht die Erlaubnis, jemanden für den Agentendienst anzuwerben.
6. Der der Disziplinarmaßnahme vorausgegangene Vorfall
Einen Tag, nachdem ich die mir zugewiesene Observation von 243-66328 abgeschlossen hatte, erst letzte Woche, erhielt ich eine weitere Zuweisung: Ich sollte ein anonymes Verhör von [zensiert] durchführen, und zwar im [zensiert]. Ich begab mich also ins [zensiert] und führte dort die Befragung durch. Es dauerte etwa anderthalb Tage.
Nachdem ich fertig war, kontaktierte mich [Agentin S.]. Ich dachte mir nichts dabei. Da der anwerbende Agent der einzige Agent ist, zu dem man direkten Kontakt haben darf, wird [Agentin S.] oft eingesetzt, um mir Informationen zu übermitteln. Das blieb auch dann noch der Fall, nachdem gegen [Agentin S.] selbst eine Ermittlung eingeleitet worden war. Diese ergab, dass sie in ihrer Persönlichkeit geschwächt ist – insbesondere, wie man mir zu verstehen gab, dass sie offenbar einmal einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Infolgedessen durfte sie, soweit ich das verstand, das [zensiert] nicht mehr verlassen. Innerhalb des geschlossenen [zensiert] fungierte sie jedoch weiterhin als Agentin.
Sie kam auf mich zu und fragte einfach nur: »Willst du die Akte zu 243-66328 einsehen?«
Ich traute meinen Ohren kaum. Ich sagte so etwas in der Art wie: »Einsehen? Meinst du das ernst?« Ich wusste ehrlich gesagt nicht einmal, dass sie eingeweiht war, wo die Akten aufbewahrt werden.
Und sie erwiderte sinngemäß: »Ja, willst du sie sehen?« An dieser Stelle erinnerte ich sie daran, dass meine dahingehenden Befugnisse bekanntermaßen sehr begrenzt waren. Mir war noch nicht einmal klar, dass die Akten hier lagerten, und wie schon gesagt, erstaunte es mich, dass sie sie mir einfach so zeigen wollte, wo in dieser Sache doch absolute Geheimhaltung herrschte.
Und sie erwiderte so etwas wie: »Ich weiß genau, wie weit deine Befugnisse reichen.« Darauf fragte ich: »Gibt es irgendeinen Grund, warum ich sie sehen sollte?« Und sie sagte einfach: »Komm mit«, oder: »Komm, wir sehen sie uns an.«
An diesem Punkt regte sich in mir ein Verdacht: Sie scheint es ernst zu meinen. Vielleicht steht sie kurz vor einem weiteren Nervenzusammenbruch, oder irgendetwas ist hier faul.
Es kam mir in den Sinn abzulehnen. Sie hat einen weit höheren Rang als ich, ist aber rein formal nicht meine Vorgesetzte, daher war ich nicht verpflichtet, ihr Gehorsam zu leisten. Es gab jedoch keinen offensichtlichen Grund, es nicht zu tun. Mir war zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, dass sie ganz klar die Vorschriften verletzen würde. Ich hielt es für das Beste, mich ihr zu fügen – den offenen Konflikt zu meiden, sie nicht zu sehr aufzubringen. Und wenn mir dann irgendetwas unangemessen vorkäme, könnte ich immer noch entscheiden, wie ich damit umging. Heute weiß ich, dass ich die Interaktion auf der Stelle hätte abbrechen müssen.
Um ehrlich zu sein, war ich neugierig. So sehr, dass die Neugier mit mir durchging, dabei
Weitere Kostenlose Bücher