Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
können, den ich kenne.
Gegen 1830 oder 1900 kam 243-66328 nach Hause. Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem er aus dem Haus ging, und seiner Rückkehr notierte ich viertelstündlich meine Beobachtungen. Er war über einen Zeitraum von etwa zehn Stunden außer Haus. Da währenddessen keine Zielpersonenaktivität zu verzeichnen war, beschränkten sich meine Beobachtungen häufig auf die Anzahl der Nachbarn, die auf dem Bürgersteig vorbeikamen, die Kennzeichen sämtlicher Fahrzeuge – Züge, Phaetone oder Limousinen – in der näheren Umgebung, die Veränderungen von Wetter und Lichteinfall sowie die Aktivitäten diverser Eichhörnchen, Stare und Blauhäher im Vorgarten der Zielperson. An manchen Nachmittagen spielten Kinder auf der Straße vor seinem Haus Stockball, was meinen Tag ein wenig belebte.
Das tat ich mehr als sechs Monate lang täglich, bis vor etwa einer Woche. Mindestens alle fünfzehn Minuten machte ich mir Notizen. Am Abend trug ich meinen Tagesbericht zusammen, wozu ich den Fernschreiber benutzte. Ich übermittelte meinen Bericht an [zensiert], und ging anschließend nach Hause, wo ich gegen 2230 eintraf. Wie der Behörde bekannt ist, wohne ich mit meinem Mann [J.] zusammen.
2. Beziehung zu [J.]
Wenn ich nach Hause kam, war [J.] normalerweise noch wach und wartete auf mich. Natürlich unterhielten wir uns – meist war ich zwar erschöpft, aber ich gab mir Mühe. Ich war es nicht gewohnt, so spät nach Hause zu kommen, doch manche Fälle erfordern es, und wir versuchten, das Beste daraus zu machen. Wir öffneten vielleicht eine Flasche Wein und erzählten uns vom Tag. Oder vielmehr, er erzählte mir von seinem Tag und fragte mich nach meinem. Und auch ich erzählte ihm dieses und jenes, aber ich achtete natürlich darauf, dass er anhand meiner Geschichten nicht erraten konnte, was ich wirklich tat. Ich habe mir mithilfe der Behörde eine Decktätigkeit zurechtgelegt. Demnach arbeite ich als [zensiert]. Was ich in gewisser Weise natürlich auch tue, wenn ich gerade keine Zuweisung habe. Außerdem war [J.] sicherlich klar – das heißt, ihm ist sicherlich klar –, dass ich einen Beruf habe, über den ich nicht sprechen kann. Er weiß in groben Zügen, was ich mache, kennt aber keine Einzelheiten. Er weiß, dass es anstrengend sein kann. Da ich in die Klassifikation Rot eingestuft bin und nicht in Weiß, bin ich befugt, ausgewählte Dinge mit meinem Ehepartner zu besprechen. Würde er weitere Einzelheiten aus mir herauszukitzeln versuchen – er weiß allerdings, dass das zwecklos ist –, wüsste ich genau, was ich sagen würde. Ich wurde gut geschult. Ich habe das Gelernte stets im Hinterkopf.
[J.] kauft mir meine Tarnung ab. Oder vielmehr, er kauft sie mir ab und gleichzeitig auch nicht. Er weiß, dass ich Aufgaben habe, über die ich nicht reden kann, und dass das, was ich ihm über meinen Tag und meine Aktivitäten erzähle, daher manchmal nur erfunden ist. Zu seinem Schutz, zu meinem Schutz, für die Integrität der Ermittlung, die Integrität der Behörde und letzten Endes zur Sicherheit der Stadt. Er weiß exakt so viel, wie die Behörde mir zu erzählen erlaubt.
Um diesen entscheidenden Aspekt genauer auszuführen: Wenn ich [J.] von meinem Tag erzähle oder davon, was in meinem Leben als sogenannte [zensiert] passiert ist, glaubt er mir und glaubt mir gleichzeitig nicht. Vielleicht so, wie wenn man ein Buch liest oder einen Film ansieht. Bewusste Aussetzung der Ungläubigkeit, so lautet der Ausdruck. Er gibt sich stillschweigend der Fiktion hin. Doch anders als in einem Film weiß er nicht, wo die Geschichte endet und wo die Wirklichkeit beginnt. Er vertraut darauf, dass ich die Übergänge nahtlos gestalte. Das bewundere ich an ihm. Zweifellos macht er es mir so um einiges leichter.
Ich würde es nicht als lügen bezeichnen, nein, denn er hat sein Einverständnis gegeben; er weiß Bescheid. Auch wenn er manchmal vielleicht nicht daran denkt. Man könnte es vielleicht so sagen: Er weiß nicht genau, wie viel er glauben soll, deshalb glaubt er einfach alles.
Manchmal, wenn eine Zuweisung eine Reise erfordert hatte oder wenn ich an einer besonders anstrengenden Ermittlung beteiligt war, spielte ich eine Art Spiel. [J.] fragte mich vielleicht: »Und, was hast du heute gemacht?« Und ich antwortete darauf so vage wie möglich, ich sagte zum Beispiel oft: »Den ganzen Tag mit der Technikabteilung telefoniert und versucht, den Oszillator in meinem Radio zu reparieren«, irgendetwas Nichtssagendes
Weitere Kostenlose Bücher