Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
hielt ich jegliches Gefühl aus meiner Arbeit heraus und erledigte sie vollkommen geistlos, sodass die größte Herausforderung darin bestand, meine Bewegungen so abzustimmen, dass kein Schweißtropfen von meiner Stirn oder keine Zigarettenasche auf das Zeichenpapier fiel.
Ich hätte mir nichts mehr gewünscht als ein Gauguin zu sein und sagen zu können: Zum Teufel mit der Gesellschaft, ich bin nur für mich selbst kreativ. Aber ich musste praktisch denken: Am Abend kam ich nach Hause zu meiner Frau, meiner Mutter und meiner jüngeren Schwester; wir lebten zusammen in drei Zimmern und waren alle von meiner Arbeit abhängig. Wie laut es in dieser Wohnung zuging! Ich wusste noch nicht, was für ein Leben ich verpasste. Diese drei Frauen hatten weder Geschmack noch Takt und verteilten überall ihren Krimskrams: Kätzchenposter, Spritzgussfiguren von Ganesha und kleine Plastikjungen, aus deren Penissen Wasser spritzte – massenproduzierte Kinkerlitzchen von den Basaren in der Stadt. »Nicht wegräumen, das gehört zu unserem Zuhause«, bekam ich immer wieder zu hören.
Ich war also dreißig, als Jogesh frisch von der Universität zu uns kam, ein gut aussehender und hochgelobter Werbetexter aus einer von Kalkuttas einflussreichsten Familien. Als wir uns zum ersten Mal begegneten, schaute er mir beim Zeichnen über die Schulter. Ich skizzierte gerade ein Storyboard für einen Fernsehwerbespot: eine Familie, die auf einer Bergwiese picknickt, in strahlend weißen Kleidern dank Rim! Brite-and-Clean-Waschseife.
»Ihre Komposition erinnert mich an Jean Renoirs Film Partie de campagne «, sagte die Stimme hinter mir in geschliffenem Englisch. »Haben Sie ihn gesehen?«
Wer war dieser korrekte junge Sahib, der sich offenbar in die falsche Abteilung verlaufen hatte? Sein großer Schatten verdunkelte meine Staffelei, und mir stieg sein europäisches Rasierwasser in die Nase. Sollte das ein Kompliment sein, oder wollte er mich auf den Arm nehmen? Diesen Bessergestellten konnte man nie trauen.
»Ein wunderbarer Film«, antwortete ich in neutralem Ton und versuchte zu ergründen, was dieser Bursche im Schilde führte. Es ist dabei nur nebensächlich, dass ich log. Auch wenn es schwerfällt, das zuzugeben: Von Jean Renoir oder Partie de campagne hatte ich bis dahin nicht einmal gehört. Was hatte ich bloß verpasst! Da ich kein Französisch sprach, glaubte ich sogar, Jogesh redete von irgendeinem Film auf Malayali.
»Eines Tages werde ich so einen Film drehen«, sagte er unumwunden. »Er wird in der bengalischen Landschaft spielen und viel mit Schärfentiefe arbeiten, so wie du es in deinem wunderbaren Storyboard vorschlägst. Es wird die Geschichte einer echten indischen Familie sein, nicht so ein Bollywood-Unsinn, mit unseren Schauspielern von hier.«
Ich drehte mich um und sah zu ihm hoch: Die simple Zuversicht und der unverhohlene Ehrgeiz des Jungen brachten mich zum Lachen, und auch Jogesh musste lachen. Vielleicht war es raffinierte Naivität, aber er vermittelte den Eindruck eines robusten Talents, das sich von unserer üblichen, unaufrichtigen indischen Bescheidenheit nicht einengen ließ. Diese Eigenschaften nahmen mich sofort für ihn ein, ich beneidete ihn darum, dass er jung, privilegiert und ohne Anhang war und deshalb solche Pläne schmieden konnte.
Warum er einen Narren an mir gefressen hatte, ist leicht erklärt. Er erkannte, dass ich selbst nach fünf Gläsern Schnaps in unserer Feierabend-Dhaba eine Szene skizzieren konnte und dabei noch das kleinste Detail treffsicher einfing. Er schätzte die Sorgfalt, mit der ich einen Entwurf für einen Werbefilm erstellte, und meine wohlüberlegte Requisitenauswahl beim Dreh. Er bewunderte meine ästhetischen Werte.
Er nahm mich mit zu allen ausländischen Filmvorführungen, fragte mich nach meiner Meinung und brachte mir im Gegenzug dazu eine Menge bei. (Am meisten begeisterte ich mich für die Amerikaner: Fors, Hawks, Hitchcock, Nicholas Ray.) Er wollte mich gut vorbereiten, denn ich hatte Fertigkeiten, die ihm nützlich sein würden, und von unserem ersten Film an legte er die visuelle Konzeption voll und ganz in meine Hände. Ich war es, der ihn dazu drängte, die eine Hälfte von Calcutta Nights in Schwarz-Weiß (Dorfszenen) und die andere in Farbe zu drehen (Stadtleben). Ich zeichnete die Kostüme, die dem Aufstieg der Familie auf der sozialen Leiter Leben einhauchten. Sorgfältig wählte ich das Mobiliar für ihre aufeinanderfolgenden Häuser aus. Und
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